Droht den USA nach den Folterbildern aus Abu Ghraib ein neuer
Irak-Skandal? In der Tat, es mehren sich dieser Tage international
Berichte über eine Massenhinrichtung in der Stadt Haditha. Am Anfang
stand eine Agenturmeldung, wie sie fast täglich aus dem besetzten
Zweistromland kommt: »Bei einem Überfall auf eine Militärpatrouille im
Irak sind 24 Menschen ums Leben gekommen«, berichtete AP am 20.
November 2005. Und weiter: »An der Straße bei Haditha, 220 Kilometer
nordwestlich von Bagdad, explodierte am Samstag zunächst eine Bombe,
wie die US-Militärführung am Sonntag in Bagdad mitteilte. Danach
griffen Aufständische die gemeinsame Patrouille von irakischen und
amerikanischen Soldaten mit Schußwaffen an. Bei den Toten handelt es
sich um 15 Iraker, acht Rebellen und einen US-Soldaten.« Nun, sechs
Monate später, ist von einem Massaker an Zivilisten und dem »vielleicht
schlimmsten Kriegsverbrechen« (Washington Post) seit Beginn der
US-Invasion im März 2003 die Rede. Der demokratische
US-Kongreßabgeordnete John Murtha meinte, die Vorgänge in Haditha und
die anschließenden Vertuschungsversuche seitens der Armeeführung seien
»viel schlimmer als Abu Ghraib«, denn sie hätten Parallelen zu den
US-Massakern wie dem im vietnamesischen My Lai.
Bereits
im März hatte das Time-Magazine unter Berufung auf Menschenrechtler und
eine irakische Augenzeugin die offizielle Armeeversion eines
gewalttätigen Zwischenfalls zwischen Widerstandskämpfern und
US-Marineinfanteristen in Frage gestellt. Am Wochenende und am Montag
präsentierten die Washington Post und die New York Times detaillierte
Berichte über die mutmaßlichen Exekutionen in Haditha, begangen von
Angehörigen des United States Marine Corps, das als Elitestreitkraft
gilt. Demnach war an jenem 19. November ein 20jähriger US-Soldat durch
einen Sprengsatz getötet worden. Nachdem dessen Militärfahrzeug auf
eine Bombe gefahren war, richteten seine Kameraden in der Euphrat-Stadt
ein Blutbad an. Zuerst erschossen sie die fünf Insassen eines wartenden
Taxis. Dann zogen sie in die umliegenden Häuser. Die zehn Jahre alte
Iman Hassan ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Aus einem
Versteck mußte sie mit ansehen, wie US-Soldaten ihre Mutter, ihren
Vater, ihre Großeltern, ihren vier Jahre alten Cousin und zwei Onkel
erschossen. Danach gingen die Marines ins nächste Haus. Auch hier
löschten sie kaltblütig eine ganze Familie aus. Anschließend zog die
Eliteeinheit in eine weitere Wohnung, in der sie vier Brüder erschoß.
Das jüngste Opfer des mehrstündigen Rachemassakers war ein einjähriges
Mädchen, das älteste war ein fast 80jähriger Mann, der im Rollstuhl saß.
Nach
dem Blutbad sollen die US-Soldaten die Leichen der 24 Iraker in einem
Krankenhaus von Haditha abgeliefert haben – ohne weitere Erklärungen.
Die Vertuschungsversuche wurden zunächst von den Vorgesetzten gedeckt.
Inzwischen wird unter dem Druck der Öffentlichkeit nicht nur gegen die
mutmaßlichen Mörder ermittelt, sondern auch gegen die hochrangigen
Offiziere, die an der Verschleierung beteiligt waren. Es kommt die
Vermutung auf, daß die Berichte über erschossene »Terroristen«
lediglich die Zahl der zivilen Opfer der Besatzer widerspiegeln. Auch
hier werden Parallelen zu Vietnam deutlich.
Die New York Times
berichtete in ihrer Dienstagausgabe, der Großteil der US-Marines
bezweifele, daß ihre Kameraden in Haditha ein Verbrechen begangen
haben. Und wenn doch? Dann hätten sie auf direkten Befehl von oben
gehandelt, so, wie sie es trainiert hätten, erklärten mehrere
US-Soldaten der Zeitung. Nach Angaben der Los Angeles Times liegen dem
US-Militärgeheimdienst Fotos der in Haditha Hingerichteten vor. So
lange diese nicht veröffentlicht werden, dürfte das Pentagon den
Skandal beherrschen können.