Massaker in Haditha

Von Rainer Rupp und Rüdiger Göbel
junge Welt, 31.05.2006 / Titel / Seite 1
http://www.jungewelt.de/2006/05-31/001.php

Droht den USA nach den Folterbildern aus Abu Ghraib ein neuer Irak-Skandal? In der Tat, es mehren sich dieser Tage international Berichte über eine Massenhinrichtung in der Stadt Haditha. Am Anfang stand eine Agenturmeldung, wie sie fast täglich aus dem besetzten Zweistromland kommt: »Bei einem Überfall auf eine Militärpatrouille im Irak sind 24 Menschen ums Leben gekommen«, berichtete AP am 20. November 2005. Und weiter: »An der Straße bei Haditha, 220 Kilometer nordwestlich von Bagdad, explodierte am Samstag zunächst eine Bombe, wie die US-Militärführung am Sonntag in Bagdad mitteilte. Danach griffen Aufständische die gemeinsame Patrouille von irakischen und amerikanischen Soldaten mit Schußwaffen an. Bei den Toten handelt es sich um 15 Iraker, acht Rebellen und einen US-Soldaten.« Nun, sechs Monate später, ist von einem Massaker an Zivilisten und dem »vielleicht schlimmsten Kriegsverbrechen« (Washington Post) seit Beginn der US-Invasion im März 2003 die Rede. Der demokratische US-Kongreßabgeordnete John Murtha meinte, die Vorgänge in Haditha und die anschließenden Vertuschungsversuche seitens der Armeeführung seien »viel schlimmer als Abu Ghraib«, denn sie hätten Parallelen zu den US-Massakern wie dem im vietnamesischen My Lai.

Bereits im März hatte das Time-Magazine unter Berufung auf Menschenrechtler und eine irakische Augenzeugin die offizielle Armeeversion eines gewalttätigen Zwischenfalls zwischen Widerstandskämpfern und US-Marineinfanteristen in Frage gestellt. Am Wochenende und am Montag präsentierten die Washington Post und die New York Times detaillierte Berichte über die mutmaßlichen Exekutionen in Haditha, begangen von Angehörigen des United States Marine Corps, das als Elitestreitkraft gilt. Demnach war an jenem 19. November ein 20jähriger US-Soldat durch einen Sprengsatz getötet worden. Nachdem dessen Militärfahrzeug auf eine Bombe gefahren war, richteten seine Kameraden in der Euphrat-Stadt ein Blutbad an. Zuerst erschossen sie die fünf Insassen eines wartenden Taxis. Dann zogen sie in die umliegenden Häuser. Die zehn Jahre alte Iman Hassan ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Aus einem Versteck mußte sie mit ansehen, wie US-Soldaten ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, ihren vier Jahre alten Cousin und zwei Onkel erschossen. Danach gingen die Marines ins nächste Haus. Auch hier löschten sie kaltblütig eine ganze Familie aus. Anschließend zog die Eliteeinheit in eine weitere Wohnung, in der sie vier Brüder erschoß. Das jüngste Opfer des mehrstündigen Rachemassakers war ein einjähriges Mädchen, das älteste war ein fast 80jähriger Mann, der im Rollstuhl saß.

Nach dem Blutbad sollen die US-Soldaten die Leichen der 24 Iraker in einem Krankenhaus von Haditha abgeliefert haben – ohne weitere Erklärungen. Die Vertuschungsversuche wurden zunächst von den Vorgesetzten gedeckt. Inzwischen wird unter dem Druck der Öffentlichkeit nicht nur gegen die mutmaßlichen Mörder ermittelt, sondern auch gegen die hochrangigen Offiziere, die an der Verschleierung beteiligt waren. Es kommt die Vermutung auf, daß die Berichte über erschossene »Terroristen« lediglich die Zahl der zivilen Opfer der Besatzer widerspiegeln. Auch hier werden Parallelen zu Vietnam deutlich.

Die New York Times berichtete in ihrer Dienstagausgabe, der Großteil der US-Marines bezweifele, daß ihre Kameraden in Haditha ein Verbrechen begangen haben. Und wenn doch? Dann hätten sie auf direkten Befehl von oben gehandelt, so, wie sie es trainiert hätten, erklärten mehrere US-Soldaten der Zeitung. Nach Angaben der Los Angeles Times liegen dem US-Militärgeheimdienst Fotos der in Haditha Hingerichteten vor. So lange diese nicht veröffentlicht werden, dürfte das Pentagon den Skandal beherrschen können.