Tribunal zur Entlastung des Westens
Eberhard Schultz
Ossietzky 9/2006
http://www.sopos.org/aufsaetze/445f26f0c3379/1.phtml
Als Saddam Hussein 2004 von US-Besatzungstruppen im Irak ergriffen
wurde, gingen die Bilder von seiner spektakulären Festnahme in einer
Erdhöhle und seiner anschließenden »Entlausung« um die Welt; ihre
Authentizität wurde angezweifelt, das Zur-Schau-Stellen eines
gedemütigten ehemaligen Staatspräsidenten als scheinbar verwahrloste
Kreatur zu Recht kritisiert.
Seither ist es bei uns still um Saddam Hussein geworden. Fernab der
Weltöffentlichkeit – nur noch Al Dschasira und CNN berichten außerhalb
Iraks regelmäßig – findet ein Strafverfahren statt, das nach dem Willen
seiner Urheber eigentlich welthistorische Bedeutung erhalten sollte.
Bei genauer Betrachtung zeichnet sich aber schon ab, daß an dem Prozeß
gegen Saddam Hussein, der am 19. Oktober 2005 in Bagdad im Namen der
irakischen Regierung vor einem von den USA geschaffenen Sondertribunal
begann, nichts historisch zu nennen sein wird außer der Tatsache, daß
er ein inszenierter Schauprozeß mit einem vorfabrizierten Ergebnis ist.
In diesem Prozeß werden nur 19 Anklagepunkte gegen Hussein verhandelt,
die mit einem Massaker in Zusammenhang stehen, bei dem 1982 in dem Dorf
Dujail 150 Menschen getötet wurden. Das Massaker war die Reaktion auf
einen fehlgeschlagenen Attentatsversuch gegen Hussein, den angebliche
Mitglieder der fundamentalistischen Schiiten-Organisation Da'awa – der
Partei des heutigen irakischen Ministerpräsidenten Ibrahim al-Jaafari –
begangen hatten.
Das Massaker von Dujail wurde ausgewählt, weil ein vom Angeklagten
persönlich unterzeichnetes Hinrichtungsdekret vorliegen soll und weil
es nicht, wie andere Hussein zugeschriebene Verbrechen, vom Westen
(namentlich von den USA oder der BRD) ermutigt oder gebilligt worden
ist. Zu jenen anderen gehören: die Ermordung von Mitgliedern der
irakischen Kommunistischen Partei 1979; die Ermordung Tausender
Schiiten in der Vorbereitung auf den Überfall des Irak auf den Iran
1980; der Einsatz vom Westen gelieferter Chemiewaffen gegen iranische
Truppen und Zivilisten während des iranisch-irakischen Kriegs von
1980–88; die Pogrome gegen die kurdische Bevölkerung in den späten
1980er Jahren; das Abschlachten von Tausenden Kurden und Schiiten nach
dem Golfkrieg von 1991.
Der Prozeß gegen Hussein ist bewußt so organisiert worden, daß sich
Vorgänge wie im Prozeß gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten
Slobodan Milosevic vor dem Internationalen Ad-Hoc-Tribunal des
UN-Sicherheitsrats in Den Haag nicht wiederholen können. Gegen
Milosevic wurden 66 Anklagepunkte wegen Kriegsverbrechen und Völkermord
verhandelt, die er angeblich in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo
begangen haben soll. Bekanntlich hat er den Prozeß dazu genutzt, die
Verantwortung der Großmächte für das Schüren ethnischer Konflikte
nachzuweisen, die die Region zerrissen haben, und den kriminellen
Charakter des NATO-Angriffs von 1999 auf Jugoslawien zu entlarven. Dem
Angeklagten gelang es, zahlreiche Zeugen der Anklage im Kreuzverhör
entweder als unglaubwürdige Werkzeuge der NATO-Aggression vor der
Öffentlichkeit bloßzustellen oder aber zu Zeugen der Verteidigung
umzufunktionieren.
In Bagdad konnte der ursprünglich von den USA eingesetzte Vorsitzende
Richter jedoch nicht verhindern, daß Saddam Hussein sich als
rechtmäßiger Präsident des Irak bezeichnete und damit die Legitimität
des Gerichts öffentlichkeitswirksam bestritt. Aber durch die enge
Auswahl der Anklagepunkte hoffen die USA, zumindest eine Erörterung
ihrer Zusammenarbeit mit dem Baath-Regime in den 1980er Jahren zu
vermeiden. Dabei könnte Hussein zum Beispiel über die Gespräche
berichten, die er 1983 und 1984 mit dem damaligen Gesandten des
Präsidenten und heutigen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld geführt
hat und die zur amerikanischen Unterstützung des Irak im Krieg gegen
den Iran führten.
Deshalb scheint das Ergebnis des Prozesses weitgehend vorbestimmt. Der
irakische Präsident Jalal Talabani sagte am 6. September 2005 im
nationalen Fernsehen, Hussein sei »ein Kriegsverbrecher, der es
verdient, zwanzigmal am Tag für seine Verbrechen hingerichtet zu
werden« (ein Todesurteil werde er jedoch nicht unterzeichnen), und auch
der Regierungschef verlangte kurz vor Beginn einen kurzen Prozeß. Die
Folgen sind absehbar:
Artikel 30(b) der Statuten des Irakischen Sondertribunals bestimmt, daß
ein Todesurteil spätestens dreißig Tage nach Ausschöpfung der
Rechtsmittel vollstreckt werden muß. Diese Bestimmungen, bemerkte Human
Rights Watch, »können dazu führen, daß eine in mehreren Verfahren
angeklagte Person in einem dieser Verfahren angeklagt, verurteilt und
hingerichtet wird, bevor die anderen Verfahren abgewickelt worden sind
– mit der möglichen Folge, daß Opfer, Zeugen und das irakische Volk
insgesamt daran gehindert werden, schlüssig festzustellen, welche
Personen für einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen der
irakischen Geschichte verantwortlich sind. Die Hinrichtung eines
verurteilten Gefangenen, während noch andere Prozesse gegen ihn laufen,
bedeutet, daß die Beweise für oder gegen ihn hinsichtlich dieser Fälle
vielleicht niemals öffentlich zur Sprache kommen werden.«
Die Anklage gegen Hussein und andere Baath-Führer ist von Anfang an von
einem Verbindungsbüro vorbereitet worden, in dem Anwälte und Berater
aus den USA, Großbritannien und Australien mitarbeiten – aus Ländern
also, die mit ihrer Teilnahme an der Invasion 2003 und an der Besatzung
selbst Kriegsverbrechen begangen haben. Die New York Times nannte »das
Verbindungsbüro die wirkliche Macht hinter dem Tribunal«, das es »in
jedem Aspekt seiner Arbeit beraten und für das es oft auch die
Entscheidungen getroffen hat, und zwar immer hinter einem Schleier der
Anonymität«.
Washington finanziert die Aktivitäten des Sondertribunals mit 138
Millionen Dollar.
Aus Sorge vor der öffentlichen Wirkung des Prozesses haben US-Vertreter
Druck auf die irakische Regierung ausgeübt, die Sitzungen des Gerichts
nicht im Fernsehen zu übertragen, jedenfalls nicht früher als 20
Minuten nach der Aufnahme. Die New York Times erklärte offen, daß dies
»dem Tribunal wohl die Möglichkeit geben soll, unerwünschte
Entwicklungen im Gerichtssaal zu zensieren – zum Beispiel einen
verbalen Ausbruch Mr. Husseins oder eine Sicherheits-panne«.
Saddam Hussein und die anderen Angeklagten sind zudem verpflichtet,
sich von Anwälten verteidigen zu lassen; sie dürfen sich nicht selber
verteidigen. Dies soll die Angeklagten daran hindern, für dramatische
Inszenierungen vor Gericht zu sorgen, wenn sie die Zeugen selbst ins
Kreuzverhör nehmen oder in eigener Sache plädieren.
Zwei von Husseins Verteidigern fielen Anschlägen zum Opfer; ein
Mordkomplott gegen den Ermittlungsrichter Dschuhi wurde aufgedeckt; ein
Anschlag auf das Gerichtsgebäude wurde vereitelt, und einige
Verteidiger haben sich infolge dieser Ereignisse zurückzogen. Der
Vorsitzende Amin erwog die Verlegung des Prozesses in die weniger
instabilen kurdischen Regionen im Nordirak. Der Prozeß wird aber
weiterhin in Bagdad geführt. Der US-amerikanische Anwalt Ramsey Clark,
früherer US-Justizminister und prominenter Gegner des Irak-Kriegs,
sprang als Ersatz für die ermordeten Anwälte ein. Er hatte auch schon
Slobodan Milo¨eviæs Verteidigung unterstützt. Ein weiterer Anwalt
Saddam Husseins, Najib al-Nawimi, ehemaliger Justizminister des
Nachbarlandes Katar, bestritt die Legitimität des Gerichts, da große
Teile seines Statuts während der Besetzung durch die USA geschrieben
worden seien.
Das von den USA eingerichtete Sondertribunal verstößt gegen das
humanitäre Kriegsvölkerrecht. Das Genfer Abkommen vom 12.8.49 zum
Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (das sogenannte IV. Genfer
Rotkreuz-Abkommen) bestimmt ausdrücklich, daß das Strafrecht in den
besetzten Gebieten in Kraft bleibt (wonach das Staatsoberhaupt nicht
einfach unter Anklage gestellt werden kann) und die (vorhandenen)
Gerichte ihre Tätigkeit fortsetzen, die Besatzungsmacht also keine
neuen errichten darf (Artikel 64 Absatz 1). Nach Artikel 70 findet eine
Strafverfolgung wegen Straftaten, die vor der Besatzung begangen
wurden, nur statt, wenn es sich um Verstöße gegen das Kriegsrecht
handelt – also um Handlungen gegenüber dem Kriegsgegner und nicht der
eigenen Bevölkerung.
Der Prozeß in Bagdad findet unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen
statt. Aus Furcht vor Anschlägen wird Zeugen gegen Saddam Hussein
Anonymität zugestanden. Viele Menschenrechtsorganisationen haben
festgestellt, daß der Prozeß gegen Hussein völkerrechtswidrig und das
Tribunal widerrechtlich eingesetzt worden sei. Human Rights Watch
beanstandete zudem, daß die Rechte der Angeklagten beschnitten würden.
Ein Menschenrechtsbeobachter der Vereinten Nationen erhob ebenfalls
Bedenken: Das Gericht werde internationalen Standards nicht gerecht.
Das Tribunal ist nicht geeignet, Verbrechen von und unter Saddam
Hussein aufzuklären, erst recht nicht die Kriegsverbrechen, die in den
Irak-Kriegen begangen wurden. Dies bleibt Aufgabe der Tribunale von
unten im Geiste der Russell-Tribunale, die einst den Vietnam-Krieg der
USA untersuchten und verurteilten (Näheres zum Irak-Tribunal auf der
Homepage des Autors www.menschenrechtsanwalt.de). Auf einem dieser
Tribunale erklärte Arundaty Roy, eine der Wortführerinnen der
Anti-Globalisierungsbewegung, im Juni vergangenen Jahres in Istanbul
den Unterschied:
»… dieses Tribunal ist nicht in irgendeiner Art und Weise eine
Verteidigung von Saddam Hussein. Seine Verbrechen an Irakern, Kurden,
Iranern, Kuwaitis und anderen können nicht verrechnet werden mit dem
Prozeß, Licht zu bringen in Iraks aktuellere und anhaltende Tragödie.
Dennoch, wir dürfen nicht vergessen, daß, als Saddam Hussein seine
schlimmsten Verbrechen beging, die US-Regierung ihn politisch und
materiell unterstützte. Als er kurdische Menschen vergasen ließ,
finanzierte ihn die US-Regierung, bewaffnete ihn und stand schweigend
daneben. Während wir hier sprechen, wird Saddam Hussein gerade als
Kriegsverbrecher abgeurteilt. Aber was ist mit denen, die geholfen
haben, ihn an die Macht zu bringen, die ihn bewaffnet haben, die ihn
unterstützt haben – und die jetzt ein Tribunal errichten, das ihn
verurteilen und sie komplett freisprechen soll?«
Das Tribunal gegen Saddam Hussein dient offenkundig weniger der
Aufklärung als der Verschleierung und der nachträglichen Legitimierung
des völkerrechtswidrigen Aggressionskriegs.