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Lancet Studie 2006 Der Report zur Studie im renommierten
britischen medizinischen Fachmagazin The Lancet v.
13.10.2006 Die Studie selbst: R. Göbel und J. Guilliard, junge Welt, 13.10.2006 tagesschau.de, 12.10.2006 Florian Rötzer, telepolis, 11.10.2006 Extrapolation der Opferzahlen Lancet Studie 2004 Joachim Guilliard, 03.11. 2004 Joachim Guilliard, 10. Feb. 2006 Lancet
study - Kucinich-Paul Congressional Hearing on Civilian Casualties in
Iraq MediaLens, 18.10.2006 The Age (Melbourne), 21.10. 2006 BBC NEWS, 26.3.2007 Associated Press, 12.10.2006 Washington Post, 11.10.2006 Reuters, 21.20.2006 San Francisco Chronicle, 12.10.2006 Hamit Dardagan, John Sloboda, and Josh Dougherty, Iraqi Body Count
IBC, 16.10. 2006 IBC, April 2006 „Kriegsopfer im Irak – Forscher bezweifeln Zahl von 650.000 Toten“, Spiegel Online, 6.3.2007 Open Research Business, ORB, 20.09.2007 "WHO-Studie" In einer in Zusammenarbeit mit der WHO durchgeführte Studie der irakischen Regierung 151.000 Opfer von Gewalt in der Zeit von März 2003 bis Juni 2006 New England Journal of Medicine (NEJM), Januar 2008 Gesamte Studie: Joachim Guilliard, 11.01.2008
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Just Foreign Policy: „Body Count“ im Irak Opferzahlen
im Irak ein Politikum
Verdrängungsstrategien – Anhaltende Leugnung irakischer Opferzahlen Joachim Guilliard (vorläufiges Manuskript, Stand April 2007)Im Oktober 2006 hatte die angesehene medizinische Fachzeitschrift The Lancet die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie veröffentlicht, die ergab, dass bis Juni 2006 ungefähr 650.000 Iraker und Irakerinnen Opfer von Krieg und Besatzung geworden waren.[1] Im Westen wurde die Studie jedoch von Politiker und Medien größtenteils, meist nur auf Grund der unfassbaren Zahl, als spekulativ verworfen und ignoriert. Kurz vor dem vieren Jahrestag des Krieges gab es noch mal, ausgehend von der Times, eine Medienkampagne gegen die Studie, die auch vom deutschen Magazin Der Spiegel aufgegriffen wurde. Ziel war offenbar die Zahlen als so fragwürdig erscheinen zu lassen, dass niemand sie in seiner Jahresbilanz zu nennen wagt. Dies ist gelungen. Die Lancet-Studie wird, wenn überhaupt, nur mit dem Zusatz „umstritten“ erwähnt. Basis bei der Angabe von Opfern blieb das „Iraqi Body Count“-Projekt (IBC), das für den Zeitraum der Studie ca. 43.000 getötete Zivilisten registrierte hatte. Im März 2007 waren hier schon 65.000. Im selben Zeitraum hatte es auch in einem anderen Land eine horrende Zahl von Toten geben. Diese Zahl ist in der Öffentlichkeit sehr präsent: sie findet sich in Resolutionen des Sicherheitsrates und auf großformatigen Anzeigen von mehr oder weniger regierungsnahen Organisationen, die damit ihre Forderung nach einer militärischen Intervention untermauern – es handelt sich um die sudanesische Provinz Darfur. Die Zahl der Opfer war nach der selben Methode geschätzt worden, wie im Irak, z.T. sogar von den selben Wissenschaftlern. Der selektive Umgang mit den Studienergebnissen zeigt wie stark politisch motiviert die Verdrängungsstrategien offensichtlich sind. An sich sind schon die von IBC gemeldeten 65.000 zivilen Opfer – dies entspricht der Auslöschung einer Stadt wie Fulda – eine erschreckende Zahl. Doch scheint dies noch tolerabel und zum guten Teil auch mit dem Bild einer überbordenden religiös motivierten Gewalt zu erklären. 650.000 hingegen wären eindeutig ein Verbrechen in der Dimension eines Völkermords. Würde dies von einer breiten Öffentlichkeit als solches erkannt, wäre die Irak-Politik der USA und ihrer europäischen Verbündeten nicht mehr haltbar. Es lohnt sich daher, sich mit der Lancet-Studie und der Kritik daran ausführlicher zu beschäftigen. Basis der Lancet-Studie, die von einem amerikanisch-irakischen Team unter Leitung renommierter Wissenschaftler der Bloomberg School of Public Health an der John Hopkins University durchgeführt wurde, war die Befragung einer repräsentativen Auswahl von 1850 Haushalten im gesamten Land über Todesfälle in ihren Familien, sowohl in den 15 Monaten vor, als auch in den 40 Monaten nach Beginn des Krieges. Insgesamt waren knapp 13.000 Personen in die Studie einbezogen. Die Sterblichkeit wuchs demnach von 5,5 Toten pro tausend Einwohner und Jahr vor Kriegsbeginn auf durchschnittlich 13,3 in der Zeit danach. Die Differenz zwischen diesen beiden ergibt die Zahl der Menschen pro Tausend, die ohne Krieg und Besatzung noch leben würden, hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung von etwa 26 Millionen sind dies 655.000. Dies ist zwar nur ein Schätzwert, die Genauigkeit lässt sich aber statistisch bestimmen. Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt demnach mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 390.000 und 940.00 (dies ist das sogenannte 95-Prozent-Konfidenzintervall), wobei eine Zahl um 655.000 am wahrscheinlichsten ist. Das angewandte Verfahren ist Standard, es wurde auch im Kongo, Angola und Bosnien angewandt, ohne dass es je zu prinzipiellen Zweifeln gekommen wäre. Es ist bereits die zweite Studie der Bloomberg School. Die erste wurde im Sommer 2004 durchgeführt. Die Ergebnisse der neuen Studie stimmen, wenn man den Zeitraum der ersten betrachtet, gut überein. Damals waren knapp 100.000 Opfer in den ersten 18 Monaten nach Kriegsbeginn geschätzt worden. Das ist zwar weniger als die 112.000, die die zweite Studie für diesen Zeitraum ergab. Bei der ersten hatte man jedoch die große Zahl von Todesfälle in Fallujah im April 2004 als Extremwerte ausgeklammert. Dies war, wie sich nun zeigt, zu vorsichtig gewesen.[2] Die kriegführenden Regierungen konnten dieses brisante Ergebnis natürlich nicht stehen lassen. Nach US-Präsident Bush verwarf auch der britische Premier Tony Blair die Zahlen der Lancet-Studie sofort als völlig unglaubwürdig. Die Studie hätte nur eine Extrapolationstechnik verwendet und dies basierend auf einer relativ kleinen Stichprobe von einer Gegend des Iraks, die nicht für das ganze Land repräsentativ sei. Wie die BBC jedoch im März des Jahres enthüllte, hatten die eigenen Wissenschaftler der Regierung auf Anfragen bestätigt, dass die Studie durchaus akkurat und glaubwürdig sei. Der höchste wissenschaftliche Berater des Verteidigungsministerium, Sir Roy Anderson schrieb beispielsweise zurück, „das Design der Studie ist robust und verwendet Methoden, die nahezu als ‚beste Praxis’ auf diesem Gebiet angesehen werden“ und empfahl „Vorsicht mit öffentlicher Kritik an der Studie.“ Wissenschaftler des britischen Department für internationale Entwicklung waren sogar der Ansicht, dass die Lancet Studie die Sterblichkeitsraten aufgrund ihres Ansatzes unterschätze. [3] Aus E-Mails, die sich BBC auf Basis des britischen „Informationsfreiheitsgesetz“ beschaffen konnte, geht hervor, dass Blairs Berater zunächst recht frustriert waren, zu hören, dass an der Untersuchungsmethode selbst nichts zu rütteln sei. Die Regierung erklärte schließlich, dass die Methode zwar auch in anderen Konfliktsituationen verwendet würde, die Lancet-Zahlen jedoch viel höher seien, als die Statistiken von anderen Quellen. Diese zeige nur wie enorm Schätzungen variieren können, je nachdem wie die Daten gesammelt werden. Mit Bezug auf einige Wissenschaftler, die sich kritisch geäußert hatten, hieß es schließlich nur noch, es gäbe eine „erhebliche Debatte in der wissenschaftlichen Gemeinde über die Genauigkeit der Zahlen.“ In den meisten Medien wurde von da an die Studie wenn überhaupt, nur noch mit dem Zusatz „umstritten“ erwähnt. Doch davon kann keine Rede sein. Wie Richard Garfield, Professor für öffentliches Gesundheitswesen an der Columbia University gegenüber dem Christian Science Monitor erklärte, gibt es kaum einen diesem Bereich tätigen Forscher, der glaubt es gäbe in unsicheren Gegenden wie dem Irak einen besseren Weg die Zahl der Opfer zu bestimmen.[4] In Tat stellten sich praktisch alle Fachleute auf dem Gebiet der Epidemiologie und Bevölkerungsstatistik, die dazu befragt wurden, uneingeschränkt hinter die Studie. [5] Gewisse Unsicherheiten bei Umfragen in Kriegsgebieten blieben immer, so beispielsweise 27 führende australische Experten in einem offenen Brief, diese könnten jedoch keinesfalls das Ergebnis grundsätzlich in Frage stellen. Die Studie sei methodisch korrekt und liefere somit die aktuell besten Daten über die Sterblichkeit im Irak. Auch wenn Genauigkeit immer eine Problem sei, so könne man doch sicher sagen, dass die Zahl der Opfer über 390.000 liege und sogar bis zu 940.00 betragen könne.[6]
Richard Brennan, Chef des Gesundheitsprogramms des Internationalen Rettungskomitees mit Sitz in New York, bestätigte der Associated Press, dass das Vorgehen der Studie die „praktikabelste und angemessenste Untersuchungsmethode“ ist, die wir in humanitären Konfliktzonen haben. Brennans Gruppe hat ähnliche Projekte im Kosovo, in Uganda und im Kongo durchgeführt. „Auch wenn die Ergebnisse Leute erschrecken mögen, so kann man hier schwerlich die Methodologie dagegen ins Felde führen.“[11] Sarah Leah Whitson von Human Rights Watch in New York sah ebenfalls “keinen Grund, die Ergebnisse oder Genauigkeit der Studie in Frage zu stellen“.[12] Auch Sir Richard Peto, Professor für medizinische Statistik und Epidemiologie an der Oxford Universität, der die erste Studie noch wegen zu kleiner Stichprobengröße kritisiert hatte, bezeichnet die neue Untersuchung im BBC Fernsehen als „statistisch glaubwürdig“.[13] All dies beeindruckte die Kritiker der Studie nicht. In den Anfang März erschienen Artikeln wiederholten die Londoner Times, der Spiegel und andere ungerührt die alten Vorwürfe. Der Spiegel ging dabei am unseriösesten vor, indem er pauschal behauptete Kollegen stellten die Arbeitsweise der Studienautoren in Frage und würden sogar von Betrug sprechen. Sie hätten sich nur die passenden Ergebnisse herausgepickt und würden unangenehmen Fragen ausweichen.[14] Genau gesagt sind es nur zwei „Kollegen“ die präsentiert werden, Professor Michael Spagat von der University of London und Madelyn Hicks vom Londoner Institute for Psychiatry (IoP). Spagat der am häufigsten zitierte Kritiker, ist genau genommen kein Kollege, sondern Wirtschaftswissenschaftler. Sein Hauptargument dafür, dass die Studie „wissenschaftlichen Kriterien nicht Stand“ halte, ist die sogenannte „Hauptstraßen-These“: Opferzahlen würden überschätzt, so Spagat, weil hauptsächlich Familien befragt worden wären, die an den Hauptverkehrsstraßen leben. Diese hätten ein weitaus größeres Risiko, z.B. im Kreuzfeuer oder durch Autobomben zu sterben, als andere, die weiter abseits leben. Die Interviewer konzentrierten sich jedoch keineswegs auf Hauptstraßen. Sie orientierten sich an Wohnvierteln, die mittels eines Zufallsverfahren so bestimmt wurden, dass jede irakische Familie die selbe Chance hatte dran zu kommen. Insgesamt wurden für die Befragung 50 sogenannte Cluster mit je 40 Haushalten ausgewählt, wobei die Zahl der Cluster pro Provinz proportional zur Bevölkerungsgröße war. Für jeden Cluster wurde per Zufallsgenerator zunächst eine Stadt oder ein Dorf ausgewählt, dann eine der Hauptstraßen im Ort, sowie eine der Seitenstraßen, die diese kreuzt. Schließlich wurde noch die Nummer des Hauses in der Seitenstraße gezogen, bei dem die Befragung beginnen sollte. Ausgehend von diesem Haus wurden dann sukzessive auch die benachbarten Häuser besucht, solange bis 40 Familien befragt waren. Bei drei Cluster gab es Probleme, sodass schließlich nur 1.849 Haushalte befragt werden konnten. Für die These eines höheren Risikos an Hauptstraßen gibt es ohnehin keine Anhaltspunkte. Die Formen der Gewalt reichen schließlich von Razzien bis Luftangriffen und von Autobomben bis zu gezielten Anschlägen von Todesschwadronen. Auf keinen Fall würden dadurch, wie Spagat unterstellt, ein mehrfaches der tatsächlichen Opferzahl geschätzt. Gleichfalls unhaltbar ist das Hauptargument Madelyn Hicks, die Befragung von 1.849 Haushalten sei in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu schaffen gewesen. Bei 40 Familien pro Tag wären selbst bei 10-stündiger Arbeit nur noch 15 Minuten pro Haushalt übrig geblieben, so Hicks. Sie unterschlägt dabei mutwillig die Tatsache, dass zwei Teams, bestehend aus zwei Frauen und zwei Männern, im Einsatz waren – eine Information, die auch im Studien-Bericht zu finden ist. „1.849 Interviews in 49 Tagen bedeutete, dass von unseren acht Interviewern 38 pro Tag durchgeführt werden mussten,“ so die Autoren in einer Antwort auf ihre Kritiker. Und bei den Haushalten, wo keine Toten zu registrieren waren – und dies war ja die überwiegende Mehrheit – waren nur fünf Fragen zu beantworten.[15] Selbstverständlich ist es nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, solche Studien kritisch zu hinterfragen. Die Autoren sind daher auch geduldig auf alle Kritiken eingegangen und konnten die meisten Bedenken entkräften. Der Vorwurf, die Studienautoren hätten auf kritische Fragen nicht reagiert, entbehrt daher jede Grundlage. Les Roberts, einer der Autoren, hatte bereits Ende Oktober auf alle, nun erneut vorgebrachten Kritikpunkte geantwortet. Die britische, medienkritische Organisation MediaLens hat die Antworten zusammengefasst.[16] Die BBC hat sie teilweise ebenfalls veröffentlicht und somit als einzige der großen Medien wenigstens ansatzweise ihre journalistische Pflicht erfüllt. Ausführlicher noch wurden obige und andere Kritikpunkte bei der am 11.12.2006 von den US-Kongressabgeordneten Dennis Kucinich und Ron Paul organisierten Anhörung über die Lancet-Studie diskutiert. Rede und Antwort standen hier Les Roberts und Gilbert Burnham, Co-Direktor der Johns Hopkins University und Leiter der Studie.[17] Wiederlegt wurde auch die Behauptung, systematische Fehler der Studie seien daran zu erkennen, dass sie für die Zeit nach Kriegsbeginn eine unplausible, um zwei Drittel gesunkene Kindersterblichkeit ausweise. Aus den Zahlen der Studie lässt sich ein solcher Rückgang aber nicht herauslesen. In den untersuchten 15 Monaten vor Kriegsbeginn starben in den befragten Haushalten 14 Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren – alle von ihnen eines natürlichen Todes. In den folgenden 40 Monaten starben demgegenüber 40 Kinder eines natürlichen Todes und 26 gewaltsam, allein 13 bei Luftangriffen. Die Zahl der natürlichen Todesfälle blieb somit konstant bei einem pro Monat. Die eskalierende Gewalt ließ die Kindersterblichkeit jedoch um 60% anschnellen. Andere Kritiker begründen ihren Zweifel an der Studie mit deren niedrigen Vorkriegssterblichkeit. Die von der Studie ermittelte Rate von 5,5 Toten pro 1000 Einwohner liege sogar unter der von europäischen Staaten. Würde man stattdessen die von der UNO für die Vorkriegszeit angegebene Sterblichkeit von 10 pro 1000 zugrunde legen, so schrumpfe die Differenz zur Sterblichkeit nach Kriegsbeginn auf weniger als die Hälfte. Doch die Zahlen der UNO beruhen auf reiner Vermutung, die der Lancet-Studie auf einer Untersuchung, die im übrigen mit dem Ergebnis der ersten Studie der Wissenschaftler der Bloomberg School übereinstimmen. Die Zahl von 5,5 ist in der Tat recht niedrig. Für die Zeiträume 1980-85 und 1985-90 waren 8,1 bzw. 6,8 per 1000 errechnet worden.[18] Aufgrund der vielen Opfer, die das Embargo forderte, hätte man tatsächlich mit einem Anstieg der Sterblichkeitsrate gerechnet. Diese ist jedoch auch sehr stark von der Altersverteilung abhängig. Da der prozentuale Anteil von alten Menschen in den EU-Staaten weit höher ist, haben EU-Staaten eine höhere Sterblichkeitsrate, als z.B. die arabischen. Vermutlich hat im Zuge der Verarmung der Anteil der jungen Iraker stark zugenommen. In dem von der Studie untersuchten Zeitraum war die Zahl der Geburten über doppelt so hoch, wie die der Toten. Die Möglichkeit von Verzerrungen sehen die Burnham, Roberts und Kollegen durchaus. Sie gehen im Artikel über die Studie ausführlich darauf ein. Die Wahrscheinlichkeit, die Zahl der Toten zu unterschätzen ist allerdings weit größer, als sie zu überschätzen. Z.B. werden häufig Todesfälle bei Kleinkindern nicht erfasst. Familien von getöteten Widerstandskämpfern könnten dies aus Angst vor Repression verschwiegen haben. Nicht erfasst werden auch die Todesfälle, bei denen ein ganze Familie ausgelöscht wurde oder die Familie nach der Ermordung von Angehörigen floh. Möglich ist natürlich auch, dass Familien die Zahl der Toten aus politischen Gründen übertrieben haben. Gut 90% der Todesfälle wurden aber durch Totenscheine belegt. Doch selbst wenn das Ergebnis durch solche Unwägbarkeiten um 10 oder gar 20% in die eine oder andere Richtung verzerrt wurde, so ändert dies nichts daran, dass die Zahl der Opfer in der Größenordnung von einer halben Million liegt. In der Hauptsache sind es daher auch nicht wissenschaftliche Kritikpunkte, mit der die Ablehnung der Studienergebnisse begründet werden, sondern genau mit deren unfassbaren Höhe, die ein vielfaches dessen darstellen, was US-Regierung, UNO oder diverse NGOs angeben. Die meist zitierte Quelle ist das „Iraq Body Count“-Projekt (IBC). Dieser hatte für den Zeitraum der Studie ca. 43.000 gewaltsam getötete Zivilisten in seiner Datenbank erfasst, d.h. weniger als ein zehntel. Schon diese Diskrepanz genügt vielen als Beweis, dass die Lancet-Zahlen überhöht sein müssen. Doch die Zahlen lassen sich gar nicht ohne weiteres vergleichen. Das IBC erfasst ausschließlich die Zahl der getöteten Zivilisten die in renommierten englischsprachigen Medien gemeldet werden. Gezählt werden alle Fälle, über die von mindestens zwei unabhängigen Quellen berichtet wurde. Weichen die Angaben ab, wird die größere Zahl als „Maximum“ und die kleinere als „Minimum“ gezählt. Auch die sonstigen Schätzungen der Opferzahlen beruhen auf der Erfassung gemeldeter oder von Leichen- und Krankenhäuser registrierter Todesfälle. Die Diskrepanz der Ergebnisse dieser Verfahren und der durch aktive Befragung ermittelten Lancet-Zahlen ist nach der Erfahrung von Experten nicht ungewöhnlich. In keinem Konflikt konnte man durch die sogenannten „passiven Untersuchungsverfahren“ mehr als 20% der Opfer erfassen, heißt es in der jüngsten Lancet-Studie. In den heißen Phasen des Bürgerkrieges in Guatemala z.B. waren es nur 5%. Die Wissenschaftler des IBC räumen an sich, wenn auch etwas versteckt, durchaus ein, dass sie mit ihrer Methode nur einen Teil der Todesfälle erfassen können. „Wir sind selbst keine Nachrichtenorganisation und können, wie jeder andere, unsere Informationen nur auf das stützen, was bisher berichtet wurde“ heißt es auf ihrer Homepage. „Unser Maximum bezieht sich daher auf gemeldete Tote. Dies kann nur eine Auswahl der tatsächlichen Toten sein, es sei den man nimmt an, dass über jeden zivilen Toten berichtet wird. Wahrscheinlich werden viele, wenn nicht die meisten zivilen Opfer von den Medien nicht registriert. Dies ist die traurige Natur des Krieges“.[19] Dennoch gehören die IBC-Leute mittlerweile zu den heftigsten Kritiker der beiden Lancet-Studien. Mit unermüdlichen Eifer wanden sie sich u.a. an die Wissenschaftler, die Studie verteidigen oder die Herausgeber von Medien, die sich positiv auf die Lancet-Studie bezogen. Sie argumentieren dabei nicht wissenschaftlich, sondern versuchen, Zweifel an der statistische Untersuchungsmethode generell zu wecken. Man könne doch nicht von 300 Toten bei 12.000 Irakern auf die Gesamtzahl der Opfer in einer Gesamtbevölkerung von 26 Millionen schließen in dem man jeden gefunden Toten mit 2000 mal nehme. Die so errechnete Zahl von 655.000, zwölf Mal höher als die Zahl der von ihnen registrierten Opfer, sei völlig überhöht. Es sei doch kaum wahrscheinlich, dass ein so hoher Prozentsatz von Todesfällen in den Medien unberücksichtigt bleiben würde. Unvorstellbar sei zudem, dass – wie die Lancet-Studie ergab – im letzten untersuchten Jahr 900 Iraker pro Tag getötet worden seien und davon im Schnitt nur 80 registriert wurden. Unglaubhaft sei schließlich auch, dass die Besatzungstruppen im letzten Jahr der Studie mehr Iraker getötet haben sollen, als während der „massiven Shock an Awe-Invasion“.[20] Auf die Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Methode geht IBC an keiner Stelle ein. Im Gegenteil stellen sie ihre eigenen Methode als die einzig seriöse hin. Dabei liegen sie mit ihren Schätzungen schon deutlich unter dem, was die UNO veröffentlicht. Deren Angaben basieren auf den Zahlen von Kranken- und Leichenhäusern, die vom irakischen Gesundheitsminister übermittelt wurden. Diese Berichte gibt es nicht von Beginn an, die Besatzungsmacht hat die Weitergabe der Zahlen mehrfach untersagt. Für 2006 beziffert die UN-Mission im Irak (UNAMI) die Gesamtzahl der Ermordeten mit 34.452, der IBC nur max. 23.000. [21] Das Gesundheitsministerium selbst schätzte letzten Oktober die Gesamtzahl der Opfer seit März 2003 auf 100.000 bis 150.000. Tatsächlich dürften aber nach Ansicht vieler Experten, nur ein kleiner Teil von Kranken- und Leichenhäusern erfasst werden. In den von Besatzungstruppen angegriffenen und eingekreisten Städten und Stadtvierteln beispielsweise kommen die Leute oft tage- und wochenlang in kein Krankenhaus und auf keinen Friedhof. Da der Islam die rasche Bestattung gebietet, bleibt nur die Beerdigung im Hof oder Garten. Und auch da wo es möglich wäre, scheuen viele, ihre ermordeten Angehörige und Freunde zum Leichenschauhaus zu bringen. Sie fürchten dadurch selbst ins Visier der Mörder zu geraten. [1] Der Report zur Studie im renommierten britischen medizinischen Fachmagazin The Lancet v. 13.10.2006 Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey Die Studie selbst: Gilbert Burnham, Shannon Doocy, Elizabeth Dzeng, Riyadh Lafta, Les Roberts The Human Cost of the War in Iraq 2002-2006 , sowie die Anhänge: Appendices [2] siehe J. Guilliard, „Die verheimlichten Opfer“, http://www.iraktribunal.de/dokus/studies/opfer3j.htm [3] “Iraqi deaths survey 'was robust’”, BBC NEWS, 26.3.2007 [4] “Iraq casualty figures open up new battleground”, Christian Science Monitor, 13.12. 2006 [5] MediaLens hat eine ganze Reihe zusammengestellt: “Democracy and Debate - Killing Iraq”, MediaLens, 18.10.2006 [6] “The Iraq deaths study was valid and correct – 27 academics in the fields of the medical sciences attest“,The Age, 21.10.2006 [7] Iraq death rate estimates defended by researchers, Reuters, 21.20.2006 [8] ebd. [9] Channel 4 News, October 11, 2006, , zitiert nach “Democracy and Debate …”, a.a.O. [10] “Critics say 600,000 Iraqi dead doesn't tally”, San Francisco Chronicle, 12.10.2006 [11] “Bush Dismisses Iraq Death Toll Study”, Associated Press Online, 12.10.2006 [12] “Study Claims Iraq's 'Excess' Death Toll Has Reached 655,000”, Washington Post, 11.10.2006 [13] BBC Newsnight, 11.10.2006, zitiert nach “Democracy and Debate …”, a.a.O. [14] „Kriegsopfer im Irak – Forscher bezweifeln Zahl von 650.000 Toten“, Spiegel Online, 6.3.2007 [15] aus einem Brief an das Wissenschaftsmagazin Nature, siehe http://scienceblogs.com/deltoid/2007/04/lancet_authors_reply_in_nature.php [16] Lancet author answers your questions, MediaLens, 31.10.2006 [17] Transkript der Anhörung siehe http://www.iraktribunal.de/dokus/studies/lancet2/kucinich_hearing_civilian_deaths.html [18] siehe auch Tim Lambert, „Slate's war on epidemiology continues”, 22.10.2006, http://scienceblogs.com/deltoid/2006/10/slates_war_on_epidemiology_con.php [19] unter „Quick-FAQ“ [20] siehe IBC-Erklärung 16.10.2006 „Reality checks: some responses to the latest Lancet estimates“, das Schreiben an die 27 australischen Wissenschaftler, zitiert bei Stephen Soldz: “Iraq Body Count finds a task worth their time” sowie den Schriftwechsel von IBC mit der World Socialist Web Site vom 6 4.2007 http://www.wsws.org/articles/2007/apr2007/ibc-a06.shtml [21]
UNAMI Presseerklärung vom 16.1.2007 http://www.uniraq.org/get_article.asp?Language=EN&ArticleID=269
Der vollständige UNAMI Human Rights Report, 1. Nov. – 31. Dec. 2006 http://www.uniraq.org/FileLib/misc/HR%20Report%20Nov%20Dec%202006%20EN.pdf |