Joachim Guilliard, 03.11. 2004
Mindestens 100.000 Iraker sind innerhalb von 18 Monaten
nach Beginn der US-geführten Invasion an den Folgen von Krieg und Besatzung
gestorben. Dies ergab eine Studie unabhängiger US-amerikanischer und irakischer
Wissenschaftler, die am 29.10.2004 im medizinischen Fachjournal THE LANCET unter
dem Titel Mortality
before and after the 2003 invasion of Iraq veröffentlicht und von den
meisten Medien aufgegriffen wurde.[1]
Die meisten Todesfälle sind laut Studie auf Gewalteinwirkung zurückzuführen,
in erster Linie durch Angriffe der US-Luftstreitkräfte und durch
Artilleriefeuer der Besatzungstruppen. "Die meisten Menschen, die von
Koalitionstruppen getötet wurden, waren Frauen und Kinder".
Durchgeführt wurde die Studie gemeinsam von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, der Columbia University School of Nursing und der Al-Mustansiriya Universität in Bagdad im September 2004.
Nach einem Zufallsverfahren waren über den Irak verteilt 33 Gruppen von zu
je 30 benachbarten Haushalten (sog. Cluster) ausgesucht und von
US-amerikanischen und irakischen Wissenschaftler, vorwiegend Ärzte, befragt
worden. Insgesamt wurden auf diese Weise ca. 7800 Iraker einbezogen. Die
Familien wurden gebeten, die Zahl der seit Anfang 2002 gestorbenen Angehörigen,
sowie die Todesumstände zu nennen. Soweit möglich wurden die Todesfälle
anhand offizieller Dokumente verifiziert. Insgesamt registrierte das
Forschungsteam 46 Tote vor und 142 Tote nach Beginn der Invasion.
73 der 142 Toten nach Kriegsbeginn starben eines gewaltsamen Todes Opfer (51%),
zuvor war es nur einer gewesen, nimmt man den Cluster aus der Stadt Falluja, wo die
prozentuale Zahl der Opfer sehr viel höher war, als an den anderen untersuchten
Orten, so bleibt Gewalt dennoch mit 21 von 89 (24%) Fällen immer noch die
häufigste Todesursache.
Die Wissenschaftler berechneten aus diesen Zahlen die durchschnittliche Sterberate im Irak in den 14,6 Monate vor Invasionsbeginn im März 2003 und in den 17,8 Monaten danach und rechneten die Ergebnisse anschließend auf die Gesamtbevölkerung hoch, einmal mit und einmal ohne die Informationen aus Falluja.
Ohne Berücksichtigung von Falluja ergab die Hochrechung, dass in den 18 Monaten seit Beginn der Invasion 100.000 Iraker mehr gestorben sind, als ohne Krieg und Besatzung zu erwarten gewesen wäre. Von den 73 Menschen, die eines gewaltsamen Todes starben, wurden 61 (84 %) durch Aktionen der Besatzungstruppen umgebracht, 95 Prozent davon, so heißt es ergänzend in einer Pressemitteilung der Johns Hopkins Universität zur Studie, durch Luftangriffe und Artilleriefeuer.
„Die Gefahr, gewaltsam zu Tode zu kommen, war in der untersuchten Zeit nach der Invasion 58 mal höher als in der Vorkriegsperiode“, so das Fazit der Studie.
„Wir waren schockiert von der Größenordnung, sind aber ziemlich sicher, dass die geschätzte Zahl von 100.000 eine vorsichtige Schätzung ist,“ sagte Dr. Gilbert Burnham von der Johns Hopkins Universität laut New York Times. [2]. Sie hätten die Toten aus Falluja bei der Berechnung weggelassen, da diese Stadt ein Ort „ungewöhnlich heftiger Gewalt“ gewesen sei.
Extremfall Falluja
Aus Falluja wurden gut zwei Drittel der gewaltsamen Todesfälle (52 v. 71) gemeldet, Gehen die Daten aus Falluja in die Berechung ein, so verdoppelt sich die geschätzte Zahl der Opfer auf 200.000. Offenbar hat die Forscher angesichts dieser Zahl der Mut und ihre wissenschaftliche Unvoreingenommenheit verlassen.
Wissenschaftlich gesehen gibt es keinen wirklichen Grund für den Ausschluss von Falluja. Da Falluja unter den zufällig ausgewählten Orten war, müssen dessen Daten konsequenter Weise auch mit einberechnet werden. Man kann bei Statistiken nicht nach eigenem Gutdünken bestimmte Cluster als „atypisch“ aussortieren. Man müsste zumindest dabei sorgfältiger vorgehen und statistisch nachweisen, dass diese Cluster „atypisch“ und verfälschend sind.
Es werden auch andere Probleme bei der Datenerhebung in Falluja geschildert, die
auf Kriegsfolgen zurückzuführen sind. Insbesondere stießen die Interviewer
auf viele verlassene Häuser. Nachbarn berichteten von vielen Todesfällen in
den Haushalten die hier wohnten, ohne genaue Zahlen nennen zu können. Es
könnte somit sogar sein, daß die Zahl der Todesfälle noch höher liegt.
Andererseits, könnten dadurch, daß viele Familien rechtzeitig geflohen sind,
d.h. keine Opfer zu beklagen haben, aber jetzt nicht mehr befragt werden
können, die Mortalitäten überschätzt werden.
Damit haftet zwar den Zahlen aus Falluja eine höhere Ungenauigkeit an, aber
allein dies und die
Tatsache, dass die Todesfallzahlen höher als der Durchschnitt sind, ist kein
Grund sie auszuschließen.
Schließlich stehen dem Extremfall Falluja auch Orte mit ungewöhnlich niedrigen Sterberaten gegenüber und sind eine Reihe von Städten, wie Najaf, Samarra, Baquba, Ramadi, und Tall Afar, in denen ebenfalls US-Angriffe sehr viele Opfer forderten, in den Stichproben nicht enthalten. So wurden allein am 1./2.. Oktober 2004 bei der „Rückeroberung“ Samarras 100 bis 150 Einwohner getötet.[3]
Darüber hinaus ( so die Studie auf S.7) lag ein untersuchter "Cluster" im Bagdader Stadtteil Sadr City, wo die heftigsten Kämpfe in Bagdad stattfanden. Auch hier wurden seit April mehrere hundert Anwohner getötet (s. z.B. die Los Angeles Time v. 8.6.2004 "Sadr City's 'daily massacre' rages as death toll soars"). Zufällig fiel die Auswahl hier aber auf ein Viertel, das davon bisher völlig verschont geblieben war und von wo kein Todesfall in den untersuchten Familien zu vermelden war.
Durch die groben Maschen der Studie, rutschten zwangsläufig auch die vielen Einzelereignisse, wie das Massaker an einer Hochzeitgesellschaft in Mukaradeeb bei al-Qaim im Mai 2004, bei dem 40 Menschen bei einem einzigen Angriff getötet wurde.[4]
Von all diesen vielen „Extremfälle“ wurde in der Studie Falluja ausgewählt. Mag sein, dass damit die Sterblichkeiten etwas überschätzt werden. Das gehört aber zu den prinzipiellen Ungenauigkeiten einer solchen Studie mit relativ kleiner Stichprobe. Leider dürfte aber die Schätzung unter Einbeziehung Fallujas der Realität näher kommen als die ohne.
Säuglingssterblichkeit
Die Säuglingssterblichkeit (das ist die Sterblichkeit im 1. Jahr)
verdoppelte sich in den einbezogenen Familien von 29 auf 57 Tote per 1.000
Lebendgeburten. Während der Anstieg innerhalb der befragten Familien sicherlich
sehr gut den Trend wiedergibt, sind die Sterblichkeitsraten im Vergleich zu
anderen Studien recht niedrig.
So gibt UNICEF in ihrem aktuellen Länderüberblick
zur Lage der Kinder in Tabelle
1 für 2002 eine weit höhere Kindersterblichkeit von 102 an.[5]
Nach einem Bericht
des britischen Independent v. 10. 10. 2003 [6]
war im ersten halben Jahr die Sterblichkeit bei der Geburt bereits v. 57 auf 102
pro 1000 angestiegen.
Ergebnis der Studie im Einklang mit anderen Schätzungen
Unabhängig dieser Unsicherheiten, gilt diese Art der Untersuchung unter Wissenschaftlern als durchaus üblich, akkurat und akzeptabel. Selbstverständlich sind auf Grund der relativ kleinen Zahl befragter Haushalte die Werte nicht sehr exakt. (So liegt z.B. das 95%-Confidenz-Intervall beim Anstieg der Säuglingssterblichkeit zwischen 30 und 85 per 1.000 Geburten). Die Redaktion des renommierten internationalen Fachjournals Lancet steht jedenfalls zu dieser Studie, die sie, wie der Herausgeber der Zeitschrift in seinem Kommentar zur Studie schreibt, vor der Veröffentlichung ausgiebig von Experten begutachten ließ und sorgfältig redigierte.[7]
"Unsere Ergebnisse müssen mit einer größeren Beispielgruppe nachgeprüft werden”, sagte der leitende Autor der Studie, Les Roberts von der Bloomberg School of Public Health. “Trotzdem denke ich, hat unsere Untersuchung sowohl die Wichtigkeit als auch die Machbarkeit einer Untersuchung über zivile Kriegsopfer bewiesen." Für die Wissenschaftler ist ihre Studie daher auch eine heftige Kritik an den US-Militärs, die patzig verkündet hatten, keine Statistik über getötete Iraker zu führen.
Die Zahlen sind für viele Experten nicht überraschend, auch nicht für
Scott Lipscomb, Professor an der Northwestern University, der beim Iraq
Body Count-Projekt (IBC) mitarbeitet. „Ich bin gefühlsmäßig geschockt,
doch fällt es mir nicht schwer, zu glauben, dass so viele Leute getötet
wurden,“ sagte er der New
York Times. [8]
ICB, das im wesentlichen allgemein zugängliche Quellen, wie Zeitungsartikel
auswertet, schätzt die Zahl der Opfer für den gleichen Zeitraum auf 14.000 bis
16.000. „Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die aktuelle Zahl weit höher
sein muss,“ so Lipscomb. Gerade in einem islamischer Land, wo Tote sehr rasch
begraben werden müssen, werden diese in Notsituationen (besonders während
anhaltender Angriffe) auch unmittelbar bei den Wohnhäusern begraben. Diese
Todesfälle werden in der Regel nirgends registriert.
Auch die Autoren der Studie weisen auf die Schwäche solcher rein passiver
Untersuchungsverfahren hin. IBC beschränkt sich zudem auf die direkten Opfer
militärischer Gewalt.
Das schmälert nicht die wertvolle Arbeit, die IBC leistet, indem sie eine
Datenbank der gesicherten Fälle aufbaut, z.T. sogar mit dem Namen des Opfers.
IBC liefert verlässlich die Mindestzahl ziviler Opfer. Die IBC Zahlen werden
allerdings dann zum Problem, wenn wie häufig der Fall, Medien die Body Count
Zahlen wie empirische wiedergeben.
Es gab auch frühere Untersuchungen die auf höhere Opferzahlen hinwiesen. Eine,
von einer irakischen Organisation im Sommer 2003 durchgeführte, umfassende
Befragungsaktion, zu der Hunderte von Mitgliedern ausgeschwärmt waren, kam zum
Ergebnis, dass vom 20. März bis Mitte Juni 37.000 Zivilisten getötet
wurden.( siehe Al Jazeera,
Iraqi
group: Civilian toll over 37,000 und Wanniski, „Civilian
War Deaths in Iraq“).
Auch das Todesfallregister der Scheich Omar Klinik in Bagdad kann die Zahlen etwas untermauern. Hier wurden seit Beginn der Invasion 10.363 gewaltsame Todesfälle in Bagdad und Umgebung erfasst. (AP: Thousands of Iraqis Estimated Killed.) Diese Zahl hat, so der Chef des Bagdader Leichenschauhauses Dr. Abdul-Razzak Abdul-Amir, damit mindestes um den Faktor 10 zugenommen. Selbstverständlich sind hier auch die Opfer von Racheakten, Raubmorden, irakischer Widerstandsaktionen und terroristischer Anschläge erfasst – die Iraker machen aber zurecht die Besatzung für den gesamten Anstieg verantwortlich.
Robert Fisk hatte bereits im Sommer 2003 im Forensischen Institut in Bagdad nachgefragt. Deren Zahlen belegen einen eklatanten Anstieg der Zahl von Gewaltopfern unmittelbar mit dem Beginn der Besatzung. Betrug 2002 die höchste Zahl für einen Monat 237, so lagen sie im Mai 2003 schon bei 462, stiegen von Juni bis August auf 626, 751 und 872. Auf Basis von Bagdad und drei weiteren Städten schätze Fisk im September 2003, dass im Irak wöchentlich mindestens 1000 Iraker und Irakerinnen eines gewaltsamen Todes starben. ("Secret slaughter by night, lies and blind eyes by day") In 18 Monaten würde sich dies auf 75.000 summieren, die Gewalt hat aber seither noch zugenommen..
- Anstieg der Sterberaten durch das Embargo berücksichtigen
Eigentlich hätte man aufgrund der fürchterlichen Lebensbedingungen durch Krieg und Besatzung (schlechte Ernährung, fehlende Gesundheitsversorgung, Krankheiten durch verseuchtes Trinkwasser etc) auch einen größeren Anstieg von Toten gerechnet, die keines gewaltsamen Todes starben. Hier muss berücksichtig werden, dass die Sterblichkeit im Irak schon vor dem Krieg sehr hoch lag. Nach Schätzungen von UNICEF starben während des Embargos jährlich mindestens 90.000 Menschen an dessen Folgen.[9] Zum Vergleich mit der Situation vor dem Beginn der US-Aggression müssen diese zu den neuen Zahlen noch hinzuaddiert werden.
Letztlich ist die Kenntnis der wirklichen Todeszahlen natürlich nicht entscheidend um zu sehen, welches erneute Verbrechen den Irakern zugefügt wird. Wir können nur hoffen, daß diese Studie die Menschen hier wieder aufrüttelt und sich wieder mehr Leute für dessen Beendigung engagieren.
Studie:
Mortality before and after the 2003 invasion of Iraq: cluster sample survey http://image.thelancet.com/extras/04art10342web.pdf
Richard Horton (Hrsg. von The Lancet)
The war in Iraq: civilian casualties, political responsibilities
http://image.thelancet.com/extras/04cmt384web.pdf
Pressemitteilung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, an der die Studie u.a. durchgeführt wurde: "Iraqi Civilian Deaths Increase Dramatically After Invasion"
[1] „100
000 Iraker getötet“, junge
Welt, 30.10.2004
„Study
Puts Iraqi Deaths of Civilians at 100,000“, New York Times, 29.10.2004
Revealed: War has cost 100,000 Iraqi lives, The Independent, 29.10.2004
[2] NYT 29.10.2004, a.a.O.
[4] "Bluthochzeit auf Video", junge Welt, 25.05.2004 und „Wedding party massacre - Iraqis claim more than 40 killed in US helicopter attack“, The Guardian, 20. 5. 2004
[5] UNICEF: The State of the World's Children 2004 - Table1 Basic Indicators, http://www.unicef.org/sowc04/
[6] „Iraq, Six Months On“, The Independent, 10 October 2003
[7] Richard Horton, „The war in Iraq: civilian casualties, political responsibilities“, The Lancet, 29.10.2004
[8] NYT 29.10.2004, a.a.O.
[9] "Situation Analysis of Children and Women in Iraq", UNICEF Report, 30 April 1998, zitiert nach einer Zusammenfassung von Rania Masri, http://www.iacenter.org/unsit.htm