Walter Sommerfeld
Land im Umbruch – Der Irak ein Jahr nach dem Krieg
Innerhalb eines Jahres hat sich fast alles im Irak geändert.
Ein Szenario von WidersprüchenFrüher gab es Stabilität und Sicherheit, jetzt herrschen Terror und Kriminalität.
Unter Saddam wurden die Menschen kontrolliert und gegängelt, Widerspenstige riskierten Freiheit und Leben, jetzt sagt jeder, was er denkt, und jeder kann machen, was er will ("unsere Form der Freiheit").
Eines der lange Zeit isoliertesten Länder gehört jetzt zur globalisierten Welt, und die Insignien der Moderne – wie z. B. Satellitenschüsseln – haben sich überall verbreitet. In das früher kaum zugängliche Land kann jetzt jeder ohne Visum und Kontrolle reisen, wie er will – kaum jemand allerdings tut es, wenn ihm sein Leben lieb ist.
Religion und Staat waren strikt getrennt – jetzt trommeln die Islamisten, sie haben still und unauffällig bereits viele Schaltstellen in die Hand genommen und bereiten sich in aller Öffentlichkeit auf die Machtübernahme vor.
Eine dünne Schicht von Parvenus liebte es, mit protzigen Autos der neuesten Baureihe zu flanieren – diese sind jetzt im Straßenbild verschwunden, denn es ist lebensgefährlich, Reichtum zu zeigen; Überfälle, Entführung und Erpressung drohen.
Die Korruption, die vor 1990 praktisch unbekannt war, sich dann allerdings während der Embargozeit in verdeckter Form weit verbreitet hatte, ist eine Selbstverständlichkeit geworden und wird mit einer Dreistigkeit gehandhabt wie kaum irgendwo sonst auf der Welt.
Statt eines kleinen, von der früheren Regierung für die Normalbevölkerung gesperrten Innenstadtbezirks von Bagdad, an dem der Durchgangsverkehr problemlos vorbeifloß, wurde nun im Zentrum von der amerikanischen Zivilverwaltung eine Festung von einigen Quadratkilometern errichtet. Der daraus resultierende permanente Verkehrsinfarkt ist ein Hauptproblem geworden. Zur alltäglichen Geräuschkulisse gehören Bombenexplosionen und Schießereien. Die grassierende Kriminalität ist allerdings eine noch allgegenwärtigere Bedrohung als der Widerstandskampf.
Der Irak war während des Embargos ausgehungert, verfallen und verarmt, jetzt fließen Milliarden ins Land – der Mehrheit der Bevölkerung geht es jedoch schlechter als zuvor, der Überlebenskampf ist härter geworden, und selbst die Grundversorgung mit Strom und Wasser hat noch nicht das Vorkriegsniveau erreicht.
Das geplünderte und durch Wandalismus zerstörte Nationalmuseum in Bagdad wird vorbildlich wieder aufgebaut, während gleichzeitig die Raubgrabungen im Südirak eine solche dramatische Steigerung erlebt haben, daß in den letzten Monaten mehr Kulturgut zerstört wurde als in den vergangenen 150 Jahren.
Ein Jahr nach dem Krieg ist der Alltag ein Albtraum geworden. Trotzdem wird man kaum jemanden finden, der von der "guten, alten Zeit" spricht und sich nach dem Regime Saddam Husseins zurücksehnt.
Die offiziellen Darstellungen von Politikern und Militärs reduzieren die Konflikte auf realitätsferne, untaugliche Kategorien ("Freiheit und Demokratie" versus "Terrorismus"). Die vielen Berichte in den Medien fokussieren sich auf einzelne Aspekte (wie etwa die Sicherheitslage), beschreiben aber nur selten die Dramatik des Umbruchs und die Dynamik der Entwicklung.
Die hier vorliegende Bestandsaufnahme beruht auf den Erfahrungen und Eindrücken, die ich auf einer zweiwöchigen Reise zum Jahrestag des Kriegsbeginns gesammelt habe, es war meine 48. Reise in den Irak in über 20 Jahren.
Neue Freiheiten
Diese gibt es – und niemand will sie missen.
Die Isolation während der 13jährigen Embargozeit, als die Bevölkerung die Fortschritte in der weiten Welt nur ahnen konnte, aber keinen Anteil an ihr hatte, die Unmündigkeit, in der sie durch die allgegenwärtigen Machtinstrumente des autoritären Staates gehalten wurde, die öde Monotonie des Alltagslebens, in dem es kaum Abwechslung gab, in dem die drei Fernsehprogramme, die Hauptquelle für Nachrichten und Zerstreuung, nur wenig Informationen und keine Weltläufigkeit boten, sondern erschöpfende, endlose tägliche Zeremonien aus der Innenschau, konfiguriert um die Person des Präsidenten – diese Enge und Entbehrungen schufen eine große Sehnsucht nach Modernität und Erwartungen an die erhofften Veränderungen.
Entsprechend ist der Nachholbedarf ungeheuer. Unmittelbar nach dem Fall von Bagdad war das Straßenbild beherrscht von amerikanischen Militärfahrzeugen und auf den Straßen aufgestellten Satellitenschüsseln. Hunderte frei empfängliche Fernsehprogramme bringen jetzt Vielfalt und Internationalität in die Haushalte. Internetcafes haben an jeder Straßenecke eröffnet.
Die ersehnte Meinungsfreiheit ist ein nicht mehr wegzudenkendes Element des Alltagslebens. Realistische, kritische Kommentare waren früher nur zwischen guten Freunden in privaten Gesprächen in geschützter Umgebung möglich. Kritik – beispielsweise an der Untätigkeit, Unfähigkeit und an den Übergriffen der Besatzungsmächte oder der Korruption der Übergangsregierung – wird nun in jedem Gespräch geäußert.
Zahllose Zeitungen erscheinen, die professionell gemacht sind und die kein Blatt vor den Mund nehmen, und wie ein Iraker sagte: "Es ist eine Freude, sie zu lesen".
Die politische Willensbildung à la Irak hat allerdings eine nicht steuerbare Eigendynamik. Die Informationen und Meinungen verdichten sich zu Verschwörungstheorien von hoher Brisanz, die auch die Basis für einen möglichen allgemeinen Volksaufstand bilden könnten.
Auslandsreisen waren in den vergangenen Jahren zwar nicht verboten, aber durch eine prohibitive Ausreisesteuer von 400 $ und andere bürokratische Hürden für die meisten nicht realisierbar. Jetzt kann jeder Iraker ins Ausland reisen, sofern er denn ein Zielland findet, das zur Aufnahme bereit ist. Gerade die akademische Elite, die leichter eine Anstellung findet, oder Angehörige der christlichen Minderheit, die sich über die Brückenköpfe ihrer Auslandsgemeinden besser integrieren können, verlassen angesichts der allgemeinen Unsicherheit in Scharen das Land.
Durch die Privatisierung der Wirtschaft und die Liberalisierung des Außenhandels florieren die Importe: Die Geschäfte sind voll mit Konsumgütern aller Art (eine andere Frage ist, wer sich diese leisten kann).
In den Gesprächen hört man oft: "Saddam war dumm. Warum hat er der Bevölkerung nicht solche Freiheiten gewährt? Durch Satellitenprogramme und Auslandsreisen wäre niemand zum Oppositionellen, zur Gefahr für den Staat geworden – im Gegenteil, ohne Defizitgefühl akzeptiert man leichter die Realität." Das Resultat ist eindeutig: "Seine Zeit ist vorbei. Wir wollen ihn nicht mehr."
Der Wert dieser Freiheiten ist allerdings durchaus relativ. "Was nützt mir die Freiheit zu sagen, was ich denke, wenn ich nicht weiß, ob ich wieder lebend zurückkomme, wenn ich morgens aus dem Haus gehe?"
Die Sicherheitslage
Die Unsicherheit ist dramatisch, die Gefahren für Leib und Leben sind allgegenwärtig. Die zahllosen Anschläge sind fast täglich Thema in den Irakberichten und prägen die Schlagzeilen, wenn auch meist dargestellt aus der Perspektive der Besatzungsmächte und ausländischen Besucher oder Firmenvertreter.
Die Gewalt prägt den Alltag der Iraker – Bombenanschläge, Mord, Raub, Entführung, Erpressung, Einbrüche, wild um sich schießende amerikanische Soldaten usw.
Die Ursachen sind leicht zu beschreiben, aber schwer zu beheben.
Das gefährliche Vakuum entstand durch die von den Besatzungsmächten angeordnete vollständige Auflösung der ehemals staatstragenden, stabilisierenden Institutionen. Die Armee war allgemein respektiert, die Sicherheitsdienste gefürchtet, die Polizei professionell – sie kannte die kriminellen Elemente oder erkannte sie sofort am Verhalten.
Die neu rekrutierten, erst in kleinen Kontingenten bereitstehenden Polizisten, die jetzt für Ordnung sorgen sollen, sind unerfahren und schlecht ausgebildet, nur leicht oder gar nicht bewaffnet, sie können keine effektiven Sanktionsmittel einsetzen und werden nicht respektiert. Versuchen sie etwa, energisch gegen Verkehrsrowdies vorzugehen, werden sie auf offener Straße beschossen.
Die prestigebewußten Berufssoldaten wurden auf die Straße gesetzt ohne Versorgung und Perspektive. Sie sitzen jetzt nicht herum und warten, bis sie verhungert sind, sondern bilden die Kerngruppe des Widerstands, bewaffnet, wehrtüchtig, kampferfahren und gut verborgen in der Loyalität der von Außen kaum durchdringbaren irakischen Gesellschaft.
In einem Akt der allgemeinen Amnestie wurden Ende 2002 die Gefängnisse geleert und auch die meisten Kriminellen entlassen. Der Staat war damals stark und durchsetzungsfähig genug und konnte diese Elemente bändigen. Sie fanden dann aber im Chaos der Nachkriegszeit ein Eldorado vor und haben die Verrohung der irakischen Gesellschaft forciert, und sie werden erst langsam wieder eingefangen.
In der allgemeinen Atmosphäre der Gewalt und Rechtlosigkeit bringen Not, Armut und Perspektivlosigkeit auch viele andere dazu, das Faustrecht einzusetzen, um zu überleben. Ein Freund kommentierte die Situation lakonisch: "Ein guter Mensch hat keine Chance."
Die allgemeine Bewaffnung der Bevölkerung dürfte weltweit nur wenig Parallelen haben. Der Besitz von Schußwaffen gehört traditionell zur irakischen Lebensweise. In Erwartung des bevorstehenden Krieges erfolgte eine breite Mobilisierung und allgemeine militärische Ausbildung (auch etwa von Frauenverbänden oder Schülern und Studenten), um den Volkswiderstand zu ermöglichen, und zahllose Waffen wurden an die Bevölkerung ausgegeben. Als der Staat schnell zusammenbrach und die Armee sich auflöste, wurden in der allgemeinen Plünderungswelle, die über den Irak hereinbrach und die von den Besatzungsmächten toleriert wurde, auch die riesigen Waffenlager aus den Militärbeständen ausgeraubt. Nichts ist seitdem leichter, als sich Waffen aller Art für wenig Geld zu besorgen.
Die Situation verschärft sich durch die allgemeine Rechtlosigkeit. Wohin soll sich ein Iraker im Falle von Übergriffen wenden, wenn es keine effektive Polizei, kaum Strafverfolgung, keine funktionierenden Rechtsinstanzen gibt und wenn die Besatzungsmächte in weiter Ferne von den Alltagsbelangen der Bevölkerung agieren und für deren Appelle unzugänglich sind.
Die "Mafia" hat sich rücksichtslos durchgesetzt; Gewalt regiert die Straße. Selbst in der unauffälligen, ruhigen Gegend in dem als "sicher" geltenden Stadtteil Mansour in Bagdad, in dem ich im Hause eines Freundes wohnte, wurde in der hundert Meter entfernten Grundschule an einem Vormittag ein kleines Mädchen von drei bewaffneten Männern entführt. Erpresserischer Menschenraub ist alltäglich, die Geldforderungen sind horrend. Sexuelle Übergriffe, früher nahezu unbekannt, schrecken Mädchen und Frauen.
Trotz alledem herrscht in Bagdad eine stoische Normalität, und die Anpassung an die allgemeine Gefahrensituation findet viele Wege für Schutzvorkehrungen.
Eine Bombe, die einen Kilometer entfernt explodiert (und Explosionen hört man jeden Tag viele Male), ist weit entfernt und hat mit einem nichts zu tun. Die Geschäfte, die alkoholische Getränke verkaufen, werden oft von konservativen Islamisten attackiert, insbesondere in Nebenstraßen und in der Dunkelheit. Dann werden sie eben nur im Tageslicht und in belebten Hauptstraßen betrieben. Die gefürchteten Straßenkontrollen, weil die amerikanischen Soldaten bei jeder Irritation sofort schießen, werden möglichst umfahren.
Niemand stellt Reichtum zur Schau, das wäre eine pure Herausforderung für Räuber. Luxuswagen wie die an sich hochgeschätzte Mercedes-S-Klasse sind im Straßenbild verschwunden, auch die Vermögenden sind auf unattraktive Marken und alte Modelle umgestiegen.
Strenge Kontrollen sollen die Sicherheit verbessern. Die riesige "Grüne Zone" in der Innenstadt – Zentrum der amerikanischen Zivilverwaltung und geplanter Sitz der zukünftigen, weltweit größten US-Botschaft – ist zur schwerbewachten Festung ausgebaut, die für den normalsterblichen Iraker unzugänglich ist. Festung ist überall: Die von Ausländern als Kontingent übernommen Hotels, die Ministerien der Übergangsregierung, die Sitze der neuen Parteien, viele Botschaften – Areale dieserart sind von meterhohen Mauern umgeben, ein Zugang bedarf der Legitimation und ist nur nach strengsten Kontrollen möglich.
Auch ganz zivile Einrichtungen, in denen die Iraker unter sich sind, können nur nach sorgfältigen Leibesvisitationen betreten werden. Auf dem Campus der Universität ist dies beispielsweise eine Reaktion auf die Erfahrung, daß erzürnte Studenten ihre Dozenten niedergeschossen haben.
Natürlich sind auch alle Ausländer gefährdet. Nicht durch eine allgemeine Ausländerfeindlichkeit, die es ganz und gar nicht gibt. Die Gefahr droht durch Kriminelle, den bewaffneten Widerstand oder einfach den Zufall, wenn man zur falschen Zeit zur falschen Stelle ist.
Dabei gilt folgendes Paradox: Je auffälliger die Sicherheitsmaßnahmen, desto größer die Bedrohung. Wer sich mit Personenschutz und gepanzerten Geländewagen bewegt, outet sich als Handlanger der Besatzung und präsentiert sich als Zielscheibe. Die Gegenden, in denen sich die fremden Sicherheitsmannschaften oder Firmenvertreter einquartiert haben, sind beliebte Ziele von Anschlägen.
Den besten Schutz bietet die Unauffälligkeit: ein einfaches Privathaus, ein altes Auto, die Begleitung von normalen Irakern. Die Zielgruppe, die der Widerstand vertreiben will, verhält sich nicht so. Den Kriminellen entgeht man am besten, wenn man sich nie alleine zeigt, schon gar nicht zu Fuß. Ich habe mich zwei Wochen kreuz und quer durch Bagdad bewegt, von morgens bis tief in die Nacht, und habe mich nie wirklich bedroht gefühlt.
Nur zweimal habe ich mich gefürchtet. Einmal, als aus heiterem Himmel um 5 Uhr nachmittags eine wilde Schießerei losging, in der unmittelbaren Nachbarschaft ebenso wie in der ganzen Stadt. Ich dachte zuerst: Jetzt ist der Bürgerkrieg oder der allgemeine Volksaufstand ausgebrochen, und stieg aufs Dach, um mir ein Bild der Lage zu machen, wo ich allerdings keine Kampfhandlungen ausmachen konnte. Wenig später erfuhr ich die triviale Erklärung: Die irakische Fußballmannschaft hatte die kuweitische besiegt, und das wurde dann auf irakische Art mit einem halbstündigen Schießkonzert gefeiert.
Gefürchtet habe ich mich auch auf der Rückreise auf "der gefährlichsten Autostrecke der Welt". In Fallduscha brach gerade der offene Kampf zwischen der US-Armee und den Aufständischen aus. Die Autobahn war gesperrt, und ich mußte auf einer Piste nach Falludscha, mitten durch die Stadt und dann auf der Landstraße bis Ramadi, wo bekannterweise die meisten Attacken und Überfälle stattfinden. Auffällige Beobachtungen während des Umwegs: keine, nicht einmal die Kampfhandlungen habe ich bemerkt (erst in Amman in den Abendnachrichten im Fernsehen).
Der Adrenalinspiegel steigt allerdings auch in der Nähe von Militärpatrouillen. Was kann man tun, wenn sich Panzerwagen mitten auf einer belebten Straße postieren, man im Stau feststeckt, vielleicht eine Handgranate geworfen wird, und die Soldaten dann ziellos auf die Umgebung schießen?! In der Realität der konkreten Situation passiert aber natürlich meist nichts.
Eine Reise für sich sind Überlandfahrten; in jeder Region herrschen eigene Regeln. Ohne einheimische, ortskundige Begleitung, die die Verhältnisse kennt und die Gefahr umgehen kann, sind sie kaum durchführbar.
Der allgemeine, ständig geäußerte Wunsch der Iraker, das wichtigste Ziel ist: Sicherheit und Stabilität. Sie sind davon so weit entfernt wie seit Menschengedenken nicht mehr.
Gewinner und Verlierer
"Früher hatten wir einen Räuber – jetzt haben wir 25 Räuber und den Boß." So bringt der Volksmund seine Meinung über Saddam, den von den Besatzungsmächten eingesetzten irakischen Regierungsrat und Paul Bremer, den Leiter der amerikanischen Zivilverwaltung, auf den Punkt.
Das Land ist unter die Räuber gefallen – so beschreiben die Iraker fast ausnahmslos ihre Situation.
Man kann es auch anders formulieren: "Der Irak hat jetzt die freieste Marktwirtschaft der Welt" (Bremer). Unter diesen Umständen gibt es natürlich auch viele Gewinner.
Eine der ersten Maßnahmen der amerikanischen Zivilverwaltung bestand darin, alle Steuern und Zölle abzuschaffen. Durch diese Erleichterungen begünstigt, begann schon unmittelbar nach Kriegsende eine riesige Warenflut in das ausgehungerte, vom internationalen Handelsverkehr abgeschnittene Land zu strömen, um den endlosen Nachholbedarf an Konsumgütern zu befriedigen.
Die bescheidenen Ersparnisse der Iraker reichen nicht weit, doch sie sind immerhin ausreichend gewesen, um innerhalb eines Jahres den Import von mehr als einer halben Million Privatautos (vorzugsweise der Baujahre 1990-95), zahllosen Satellitenempfängern und einer großen Palette von Haushaltsgütern und anderen Annehmlichkeiten des modernen technologischen Zeitalters zu ermöglichen.
Der Markt floriert, die Geschäfte sind voll; Billigprodukte überwiegen, doch auch an höherwertigen Gütern ist kein Mangel.
Gewinner sind die findigen und risikofreudigen Händler – insbesondere aus den Nachbarländern sowie Exiliraker –, die sich leicht orientieren konnten und die sofort die Initiative ergriffen haben und auch Investitionen nicht scheuten, sie konnten glänzende Geschäfte machen. Irakische Geschäftsleute, deren Kapital begrenzt ist und denen Auslandserfahrung fehlt, nutzen den Vorteil der Insiderkenntnisse, um sich zu behaupten.
Gewinner, wenn auch in bescheidenerem Maße, waren ebenso die Plünderer, die in den Nachkriegswirren die staatlichen Warenlager ausräumten und dann die Bestände auf dem lokalen Markt zu Billigstpreisen versteigerten und verramschten. Ebenfalls nur bescheidene Einkünfte erzielen die zahllosen Raugräber, die auf der Suche nach archäologischen Objekten, die sie für ein paar Dollar verkaufen können, die Stätten der frühen mesopotamischen Hochkultur vor allem im Südirak für immer zerstören. Die wirklichen Profite machen andere, nämlich die international operierenden Hehler und Antiquitätenhändler.
Innerhalb eines Jahres wurden von der amerikanischen Zivilverwaltung im Irak viele Milliarden Dollar für Wiederaufbauprogramme ausgegeben. In erster Linie war es irakisches Geld: die restlichen Guthaben aus dem Oil-for-Food-Programm, beschlagnahmte Vermögen aus dem In- und Ausland, die Einnahmen aus Ölverkäufen. Die mit irakischen Mitteln finanzierten Projekte werden von US-Institutionen ausgeschrieben und vergeben. Die Hauptvertragsnehmer müssen amerikanische Unternehmen sein, die dann in einem hierarchischen System von Subkontrakten weitere Firmen beschäftigen. Die zugesagten Milliarden aus den internationalen Hilfsprogrammen – alleine von den USA sollen über 18 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt werden – haben den Irak noch gar nicht erreicht.
Da sind natürlich glänzende Geschäfte zu machen. Selbst die (relativ wenigen) irakischen Unternehmer, die schließlich für einen Bruchteil des Gesamtbudgets die Arbeit vor Ort – zum Beispiel im Bausektor – ausführen, können noch wunderbare Profite erzielen.
Eine Kontrolle der Preiskalkulationen findet kaum oder gar nicht statt; die Regeln der Wirtschaftlichkeit scheinen keine große Bedeutung zu haben. Wichtig ist die Nähe zu denjenigen, die bei der Vermittlung und Vergabe von Aufträgen das Sagen haben, und die sind keineswegs bescheiden.
Ein Mitglied des Regierungsrates hat beispielsweise das Monopol bei der Lieferung der hohen Betonmauern, an denen jetzt großer Bedarf besteht. Er verkauft sie angeblich zum Dreifachen des üblichen Preises.
Die früher verdeckte Korruption ist jetzt "eine Forderung geworden", die überall offen gehandhabt wird. Kaum eine Dienstleistung oder Vermittlung ist ohne Zahlung zu erhalten, eine Auftragsvergabe ohne gezielte Zuwendungen an die entscheidenden Instanzen ist undenkbar. Die geforderten und gezahlten Beträge haben längst internationales Spitzenniveau erreicht. Die grassierende Korruption wird regelmäßig in der Tagespresse angeprangert, Beispiele werden mit Namen der Beteiligten und konkreter Darstellung der Vorgänge geschildert – Folgen resultieren daraus aber keine, niemand unternimmt irgendetwas dagegen.
Auch die Sicherheitsdienste, ohne die die Mitarbeiter der ausländischen Firmen kaum einen Schritt machen, sind teuer. Die Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen und Versicherungen soll inzwischen etwa 25 Prozent der insgesamt verausgabten Projektmittel betragen.
Unter diesen Umständen ist aus dem Irak kein blühendes Land geworden, in dem der Wiederaufbau boomt. Der Zustand der Infrastruktur ist in fast allen Bereichen schlechter als unter der vergangenen Regierung. Beispielsweise dauern die Stromausfälle in Bagdad doppelt so lange wie vor dem März 2003, die Versorgung der Krankenhäuser ist immer noch katastrophal.
Die Iraker sind sehr verbittert, daß beim Wiederaufbau auch nach einem Jahr Besatzung noch nicht viel geschehen ist, und klagen über die fehlende Transparenz: "Sie nehmen unser Öl – niemand weiß, was es kostet, wer zahlt, und was mit den Einnahmen geschieht."
Verlierer ist die breite Masse der Bevölkerung. Die überstürzte Einführung der Marktwirtschaft hat ihr Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung gebracht; etwa zwei Drittel der Iraker sind betroffen. Millionen Staatsdiener, die früher bei den Ministerien, der Armee usw. eine feste Anstellung und ein geregeltes Einkommen hatten, sind jetzt ohne Gehälter. Sie leben von der Armenunterstützung, demselben Sozialprogramm, das die frühere Regierung in Zusammenarbeit mit der UNO durchgeführt hat und das während der gesamten Embargozeit das Überleben ermöglichte.
Gewinner ist die relativ kleine Gruppe, die weiterhin bei den Behörden beschäftigt ist oder die dort eine neue Anstellung gefunden hat; sie erhält für irakische Verhältnisse sehr gute Gehälter, die weit über den früheren liegen und von denen man gut leben kann. Die Regelmäßigkeit der Zahlungen allerdings läßt noch sehr zu wünschen übrig und funktioniert auch nicht besser als die Administration allgemein.
Verlierer sind die früher subventionierten Staatsbetriebe ebenso wie die meisten Privatunternehmen, die hoffnungslos hinter den internationalen Standard zurückgefallen sind. In der Embargozeit waren allgemein Importe von Rohstoffen, Maschinen usw. den Sanktionen unterworfen, die Modernisierung konnte nur sehr begrenzt erfolgen, und Investitionen von ausländischem Kapital waren untersagt. So ist die irakische Wirtschaft in keiner Weise konkurrenzfähig und eine leichte Beute für die Übernahme oder Verdrängung durch finanzkräftige ausländische Unternehmer, die sich derzeit viele Bereiche aneignen.
Der Irak erfährt den Umbruch vom Wohlfahrtsstaat zur ungeregelten Marktwirtschaft, wie ihn ähnlich die Ostblockländer nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regierungen durchgemacht haben, mit allen Begleiterscheinungen der extremen Umverteilung. Dies geschieht im Irak allerdings unter den Bedingungen von Krieg, Besatzung, Widerstandskampf und Anarchie.
Besatzung und Widerstand
Die Amerikaner waren keineswegs willkommen.
Als ich gut zwei Monate vor Kriegsbeginn im Januar 2003 durch den Irak reiste, konnte ich überhaupt keine Anzeichen dafür entdecken, daß der Bevölkerung der Sinn nach Blumen, Fahnenschwenken und der Begrüßung von Befreiern stand. Die Iraker hatten Angst vor dem Krieg und noch mehr vor dem erwarteten Zusammenbruch der Ordnung und dem folgenden Chaos.
Ich habe auch nicht einen einzigen Iraker getroffen, der von der Uneigennützigkeit der Amerikaner überzeugt gewesen wäre. Niemand glaubte, daß es ihnen um Demokratie, Menschenrechte und dergleichen ging; jedem war klar, daß sie politische, strategische, wirtschaftliche Interessen verfolgen, daß sie sich im Nahen Osten breit machen und auch die gigantischen irakischen Rohölreserven ausbeuten wollten. Woher sollte der Glaube an westliche humanistische Werte auch kommen – die Bevölkerung hatte ein endloses Embargo erlebt, das sie ins Elend getrieben hatte und das gerade von den USA besonders erbarmungslos durchgesetzt worden war.
Und das Szenario, daß der Irak gefährlich sei, die Umwelt und sogar die USA bedrohen könne, war aus der Innenperspektive geradezu absurd.
Als Saddam jung, stark und kriegslüstern war, da war er ein guter Freund des Westens und wurde hochgerüstet mit Waffen aller Art. Jetzt, wo er sehr geschwächt war, nur mit Mühe sein Land zusammenhalten konnte, wo er ein alter Mann geworden war, dem es primär ums Überleben seiner Herrschaft ging, sollte er "der gefährlichste Mann der Welt" sein?
Die Iraker kannten natürlich den desolaten Zustand der Armee und die geringe Motivation der Soldaten. Die Ausrüstung war Jahrzehnte nicht modernisiert worden und zum großen Teil kaum mehr als Schrott. Diebstähle und Unterschlagung waren an der Tagesordnung und verhalfen vielen Offizieren zur Aufbesserung des kargen Soldes.
Und Massenvernichtungswaffen? In der westlichen Öffentlichkeit vergessen, aber in der irakischen Erinnerung sehr gut haften geblieben sind folgende Umstände. 1994 wurde von den Abrüstungsexperten der UNO ein aufwendiges Langzeitüberwachungssystem installiert, das alle wichtigen industriellen Anlagen mittels Videotechnik lückenlos kontrollierte. 1995 hatte sich Hussein Kamil, Schwiegersohn Saddams und einer der mächtigsten Männer im Staate, nach Jordanien abgesetzt, der CIA alle Interna über die früheren nichtkonventionellen Waffenprogramme verraten und ganz ausdrücklich bestätigt, daß im Irak alle diese Waffen zerstört wurden. Inspekteure der UNO hatten seit 1991 acht Jahre lang das ganze Land auf den Kopf gestellt. Diese wurden dann im Dezember 1998 einseitig abgezogen, bevor in viertägigen Luftangriffen zahlreiche strategische und industrielle Ziele zerstört wurden ebenso wie sämtliche Überwachungsanlagen. Die bis dahin stringente Kontrolle des Irak war seitdem beendet. Macht man das mit einem gefährlichen Feind? fragen sich die Iraker. Oder war es nicht eher so, daß US-Präsident Clinton sich durch die kraftvolle Attacke auf den als relativ harmlos eingeschätzten Lieblingsfeind eine Entlastung in der Lewinsky-Affäre verschaffen wollte?
Der Irak als Handlanger von Terroristen? Die säkulare irakische Baath-Regierung und Bin Laden waren sich spinnefeind, dem autoritären Orderregime waren nicht kontrollierbare Terrorgruppen ein Greuel.
Die Innenperspektive des Irak und die Bewertung von Außen waren schon immer inkompatibel.
Die Iraker waren aber zum großen Teil sehr wohl bereit, sich mit den unausweichlichen Veränderungen zu arrangieren. Das endlose Elend des Embargos, die Aussichtslosigkeit auf Veränderung, die Rigidität des herrschenden Systems – ein Ende mit Schrecken hätte immerhin auch die Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels gebracht. Die Erwartungen an eine bessere Zukunft und die Wünsche nach Modernisierung, Entwicklung, schneller Steigerung des Lebensstandards waren sehr groß; der Preis von Krieg und Besatzung und amerikanischer Vorherrschaft wäre für viele akzeptabel gewesen.
Es ist schon bemerkenswert, wie die Amerikaner es geschafft haben, trotz keineswegs schlechter Voraussetzungen die Mehrheit des Volkes in offene Feindschaft zu treiben.
Es ging unmittelbar nach dem Fall von Bagdad los. Ohne Konzept für die rasche Befriedung im Nachkriegsvakuum und für den Wiederaufbau tolerierten die Besatzungsmächte im Gegenteil die Plünderungen und Brandschatzungen, die in beispiellosem Wandalismus über das Land hereinbrachen und die Infrastruktur zerstörten. Sie unternahmen nichts gegen die explodierende Kriminalität. "This is not our order" war die Standardantwort der Soldaten, wenn sie von der Zivilbevölkerung um Hilfe gebeten wurden.
Innerhalb eines Jahres haben die Besatzungsmächte dann in einer schnellen Serie von weitreichenden Entscheidungen den früheren Wohlfahrtsstaat abgeschafft, der immerhin auf bescheidenem Niveau Beschäftigung und Grundversorgung bot, die Masse der Staatsdiener auf die Straße gesetzt, die Institutionen, die Stabilität und Sicherheit garantierten, aufgelöst, die schwache, subventionsabhängige irakische Wirtschaft kollabieren lassen. Sie haben ein Vakuum erzeugt, das jetzt die Islamisten füllen, und ideale Voraussetzungen für Terrorismus geschaffen.
Der Wiederaufbau kommt nur im Schneckentempo voran – auch ein Jahr nach Kriegsende ist der Zustand der Infrastruktur in den meisten Bereichen noch schlechter als im Embargo-gebeutelten Vorkriegsirak.
Früher hatten die Iraker Sicherheit, Stabilität, Arbeit unter den Bedingungen eines autoritären Regimes – jetzt haben sie unter westlicher Vorherrschaft Chaos, Kriminalität, Mafia, horrende Arbeitslosigkeit, Islamismus und Terrorismus, und ein Konzept für die Wende zum Besseren ist nicht in Sicht.
Die letzten Hoffnungen auf Vorteile, die die amerikanische Präsenz den Irakern bringen könnte, sind innerhalb eines Jahres angesichts der Alltagserfahrungen gewichen. Allenthalben hört man Klagen über rüden Umgang, Rücksichtslosigkeit, Brutalität, Willkür und Zwangsmaßnahmen der US-Soldaten.
Ich habe zwar keinen Iraker getroffen, der aus eigenem Erleben über die Bedingungen in der Gefängnishaft hätte berichten können, wohl aber detaillierte Schilderungen von Betroffenen über die Hausdurchsuchungen gehört.
Die Soldaten sprengen mitten in der Nacht den Eingang auf, die überraschten und eingeschüchterten Bewohner werden ins Freie gebracht und dort demütigend in Schach gehalten; dann wird das Haus auf den Kopf gestellt, jedes Schloß aufgebrochen, jede Ecke durchwühlt. Auf der vorgeblichen Suche nach Waffen werden die Soldaten auch immer fündig – und zwar finden sie den Familienschmuck und die Bargeldreserven, die irakische Familien zu Hause aufzubewahren pflegen und die dann in den Taschen der Durchsuchenden verschwinden. Diebstähle bei den Hausdurchsuchungen werden überall berichtet und scheinen Routine zu sein.
Wie und wo soll sich ein Iraker beschweren oder sich gar sein Recht verschaffen? Bei der amerikanischen Zivilverwaltung, die sich in der "Grünen Zone" festungsgleich eingemauert hat und die für gewöhnliche Iraker unzugänglich ist? Die Iraker sind rechtlos. Ein Freund – selbst Opfer einer Hausdurchsuchung – brachte es folgendermaßen auf den Punkt: "Ich bin ein gedemütigter Mensch in einem besetzten Land".
Die Verbitterung ist groß und findet drastische Worte. Folgendermaßen lautete beispielsweise der Kommentar eines schiitischen Geschäftsmanns: "Die Amerikaner haben keinen Plan, kein Verständnis, sie wissen nicht, was sie tun, sie hören auf niemanden. Die Amerikaner sind genau wie Saddam, genauso, zuerst ihre eigenen Interessen. Sie tun nichts, nichts für die Iraker."
Man kann aber auch US-Bürger treffen, die sich in der Zivilverwaltung im Irak engagiert für den Wiederaufbau einsetzen, persönlich integer wirken, die ehrlich davon überzeugt sind, daß die Welt von einer großen Gefahr befreit wurde, und die glauben, daß es der Bevölkerung ständig besser gehe und daß folglich die Mehrheit ganz zufrieden sei. Der einzige Haken: Sie haben gar keinen Kontakt mit der normalen Bevölkerung (aus Sicherheitsgründen unmöglich), sondern nur mit den "5-Sterne-Irakern". So nennt der Volksmund die Exiliraker, die Embargo und Krieg in sicherer Entfernung im Ausland verbracht haben und die jetzt als Übersetzer, Organisatoren und Berater gut dotierte Stellungen bei der US-Verwaltung und Firmen gefunden haben. So wie vor dem Krieg wird auch jetzt den bezahlenden Auftraggebern das Bild weisgemacht, das sie anscheinend wahrnehmen wollen.
Eine pragmatische Akzeptanz der US-Präsenz ist begrenzt noch im akademischen Milieu zu finden; Vertreter des westlich eingestellten Bürgertums beispielsweise versprechen sich davon den Anschluß an die internationale Welt und eine schnellere Entwicklung in Richtung Modernität.
Man hört auch wenig Gutes über die irakische Übergangsregierung, die von den Besatzungsmächten eingesetzt wurde und die irakische Bevölkerung repräsentieren soll. Von den 25 Mitgliedern des Regierungsrates haben nur drei Rückhalt in repräsentativen Bevölkerungsgruppen (die Kurdenführer Barsani und Talabani sowie der schiitische Scheich Al-Hakim). Die meisten allerdings sind ohne Verwurzelung in der irakischen Gesellschaft oder sogar völlig unbekannt, insbesondere wenn sie nach langer Exilantenzeit aus dem Ausland kamen. Viele gelten als direkte Spione für die USA; nur wenige werden als integre Persönlichkeiten respektiert (wie der frühere Außenminister Pachachi sowie der Parteiführer Dschafari).
Als jedes Mitglied dieses Regierungsrats jeweils einen Minister des Übergangskabinetts ernennen sollte, haben sie durchwegs Familienmitglieder oder persönliche Favoriten eingesetzt, Sachkompetenz spielte dabei keine Rolle.
Die typischen Kommentare aus der Bevölkerung sind blanker Zynismus: "Die Minister haben nur zwei Interessen: ihre persönliche Sicherheit und Bereichung". Oder: "Die wichtigste Frage bei den Vertragsverhandlungen in den Ministerien ist die: Wie kommt der Minister an seinen Anteil?"
So führt diese Übergangsregierung ein abgehobenes Dasein aus amerikanischen Gnaden ohne Kontakt mit der Bevölkerung, ohne Kenntnisnahme ihrer alltäglichen Belange. Die Auflösung der Übergangsregierung im Juni und die Einsetzung einer neuen "souveränen" Regierung, die die Amtsgeschäfte ab Juli 2004 führen soll, hat an dieser grundlegenden Problematik der fehlenden Autorität und Akzeptanz überhaupt nichts geändert.
Selbst der – im Ausland sehr positiv kommentierte – Entwurf einer neuen Verfassung, die der Regierungsrat erarbeitet hat, ist in der Bevölkerung unbekannt. Es gab nicht einmal ansatzweise eine öffentliche Diskussion über die grundlegende Konstitution des zukünftigen irakischen Staates.
Die Reaktion der desillusionierten Bevölkerung angesichts der deprimierenden Alltagserfahrungen, der unerträglichen Lebensbedingungen, der düsteren Zukunftsperspektive ist naheliegend.
Zunächst einmal haben sie Angst vor den amerikanischen Soldaten. Diese gelten als arrogante und brutale Besatzer, und man geht ihnen möglichst aus dem Weg. Die Iraker haben aber auch Angst vor der Zukunft und wissen nicht, wer das Vakuum stabilisieren könnte, sollten die ausländischen Truppen das Land bald verlassen.
Die US-Truppen haben jede Glaubwürdigkeit verspielt. Die amerikanische Zivilverwaltung hat ein Problem nach dem anderen geschaffen und kaum eines gelöst. Angesichts ihrer Inkompetenz und Ineffizienz hat sich eine allgemeine Verweigerungshaltung breitgemacht. In den Ministerien und Behörden arbeitet niemand engagiert, die Motivation richtet sich eher auf Diebstähle und Sabotage.
Ein Geschäftsmann, der als Subkontraktor des US-Unternehmens Bechtel sehr gute Geschäfte macht, nutzt derartige Vorteile, um sich unter den Rahmenbedingungen der neuen irakischen Marktwirtschaft zu etablieren, orientiert sich aber schon jetzt für seine zukünftigen Geschäftsbeziehungen nach Europa, denn: "Niemand wird in Zukunft amerikanische Produkte kaufen".
Eine andere charakteristische Alltagssituation, die die Atmosphäre beleuchtet, ist folgende Begebenheit. Ein Bekannter erzählte mir, daß seine zwölfjährige Tochter in der Schule eine Tasche mit allerlei netten Utensilien erhalten hatte, eine Stiftung von USAID. Sie wollte diese Tasche auch gerne haben, bat aber zu Hause als erstes ihren Vater, das Schild "Geschenk von USAID" zu entfernen.
Verweigerung und Ablehnung bereiten den Besatzungsmächten noch die geringsten Schwierigkeiten. In diesem Umfeld kann sich allerdings der bewaffnete Widerstand zu einer allgegenwärtigen Gefahr entwickeln.
Der Widerstand ist anonym, er hat keine Namen und keine Gesichter, er gibt keine Erklärungen ab, nennt die Ziele nicht, rechtfertigt sich nicht und gibt die Strategien nicht preis. Er ist aus vielen Elementen zusammengesetzt und erscheint in vielen Formen. Er ist gut organisiert und bewaffnet und observiert sorgfältig seine Ziele. Möglich sind aber auch jederzeit spontane, unkalkulierbare Attacken. Er ist undurchdringlich – niemand weiß Genaues, es gibt vielerlei Spekulationen, aber keine Informanten, die Einzelheiten mitteilen. Folglich ist er auch nicht wirksam zu bekämpfen.
Der Widerstand will offensichtlich den Besatzungstruppen, den ausländischen privaten Sicherheitsdiensten, den zivilen Handlangern und Kollaborateuren möglichst großen Schaden zufügen und sie letztlich aus dem Land vertreiben.
Die Zahl der Opfer muß sehr viel höher sein, als die Armeesprecher der Öffentlichkeit mitteilen. Viele Iraker haben in ihrer Nachbarschaft Angriffe mit Toten und Verletzten erlebt, worüber in den Nachrichten niemals eine Meldung erschien. Es werden nur die gefallenen Berufssoldaten gezählt; über die Anzahl der Verletzten und die Verluste unter den Söldnern, privaten Schutztruppen und Firmenmitarbeitern schweigen sich die veröffentlichten Angaben aus.
Der Widerstand will den Fremden auch die Profite verderben und verhindern, daß sie sich den irakischen Reichtum aneignen. So haben beispielsweise die permanenten Angriffe auf Pipelines bewirkt, daß die Ölexporte noch weit unter dem Vorkriegsniveau liegen.
Für die Auswahl der anvisierten Anschlagsziele genügen Gerüchte. Als eine Autobombe ein Hotel in Bagdad zerstört und zahlreiche Menschen getötet hatte, hieß es in der Umgebung, daß ein israelisches Unternehmen seine (überwiegend arabischen) Mitarbeiter dort untergebracht hatte. Es ist höchst fraglich, ob diese Annahme vor dem Anschlag ernsthaft überprüft wurde. Wenn die Aufbauhelfer von humanitären Hilfsorganisationen für Zivilpersonal der ausländischen Truppen gehalten werden, sind sie in gleicher Weise Angriffen ausgesetzt.
Die Masse der Bevölkerung ist mit dem Überlebenskampf im Alltag beschäftigt und zeigt sich zur aktiven Teilnahme am bewaffneten Widerstandskampf nicht motiviert. Die Untergrundkämpfer dürften sich überwiegend aus den Angehörigen der früheren Armee, Polizei, Sicherheitsdiensten rekrutieren, verstärkt durch diejenigen, die Rache für erlittenes Unrecht nehmen wollen oder die durch die Verletzung ihrer Würde und des Nationalstolzes aufgebracht sind. Gerade der Zulauf aus der enttäuschten Jugend soll erheblich sein.
Der Guerillakrieg trägt viele Züge eines genuinen antikolonialistischen Befreiungskampfes. Es ist eine Illusion anzunehmen, daß er sich verringern wird, wenn die Iraker ab dem 1.7. eine Teilsouveränität erhalten. Der Widerstand wird niemals eine Regierung aus amerikanischen Gnaden akzeptieren und auch die "5-Sterne-Iraker" aus dem Exil bekämpfen, wenn diese die Macht übernehmen wollen.
Auch im innerirakischen Machtkampf werden die Mittel des Untergrundkampfes eingesetzt. In einer Welle von gezielten Mordanschlägen sind zahlreiche Mitglieder der sunnitischen Intelligenz umgebracht worden, die unter der vergangenen Regierung Führungspositionen innehatten wie beispielsweise Chefärzte, Dekane, Generaldirektoren. Man spricht von insgesamt bis zu 2000 Opfern aus dieser Schicht. Für diese Anschläge werden allgemein die schiitischen Untergrundbrigaden verantwortlich gemacht. Über die strategischen Ziele wird dahingehend spekuliert, daß ein Vakuum in der erfahrenen Führungselite die Machtübernahme durch neue Elemente aus den schiitischen islamistischen Kreisen vereinfachen soll. Natürlich weiß niemand, ob hinter diesen Anschlägen nicht auch völlig andere Motive – insbesondere private Racheakte – stehen.
In allen Gesprächen über den Widerstandskampf gegen die Besatzer bestritten meine Gesprächspartner stets vehement, daß dabei ausländische islamistische Kämpfer (wie etwa die Qaida) eine größere Rolle spielen. Es gibt sie wohl, aber ihr Anteil ist klein. Sie kennen sich im Irak nicht aus und könnten nur schwer Stützpunkte aufbauen, die nicht sofort auffallen würden. Als Argument gilt weiterhin, daß die US-Armee wohl liebend gerne die Darstellung untermauern würde, daß sie es nicht mit einem genuinen irakischen Befreiungskampf zu tun hat, sondern mit einem aus dem Ausland gesteuerten Terrorismus. Bisher allerdings ist sie Beweise dafür schuldig geblieben. Obwohl sie einige hundert Ausländer aus islamischen Ländern verhaftet hat, konnte sie niemanden präsentieren, der nachweislich für die Anschläge verantwortlich war.
Die größte Überraschung erlebt man, wenn gebildete, wohlinformierte, international erfahrene irakische Gesprächspartner ihre feste Überzeugung äußern, daß die Amerikaner selbst hinter den Anschlägen stecken, die die meisten Opfer unter unbeteiligten Zivilisten gefordert haben. Dieser Standpunkt, der für Außenstehende völlig absurd wirkt, läßt sich nur verstehen, wenn man die Dynamik der Meinungsbildung in der irakischen Gesellschaft kennt.
Verschwörungstheorien
Der Ausgangspunkt für Erklärungsmodelle dieser Art liegt in dem Umstand, daß die Iraker eine Absicht vermuten hinter dem Chaos und dem Desaster, das die Besatzungsmächte zugelassen oder angerichtet haben.
Der schleppende Wiederaufbau hat für die Iraker eine Ratio. Niemand glaubt, daß die Supermacht USA, die ihre geradezu allmächtige technologische Überlegenheit in dem kurzen und bestens organisierten Krieg eindrucksvoll bewiesen hat, nicht auch beispielsweise in der Lage wäre, einige tausend Generatoren ins Land zu bringen, um die Stromversorgung zu normalisieren, wie es Saddams Regierung unter schwierigsten Bedingungen in kurzer Zeit gelungen war.
Also wollen die Amerikaner dies nicht. Warum? Sie wollen die Iraker demütigen, schwach und abhängig halten und vor allem einen Vorwand schaffen, um im Land zu bleiben. Denn wenn der Wiederaufbau schnell vorankäme, wären sie bald überflüssig und müßten abziehen.
Man ist sich auch sicher, daß die Amerikaner als Auftraggeber hinter den Terroranschlägen stecken, denen ausschließlich Iraker zum Opfer fielen wie diejenigen zu Beginn des Ashura-Festes in Kerbela und Kadhimija (bei Bagdad). Passendes Argument ist: "Kein Iraker begeht Selbstmordanschläge und schon gar nicht, um andere Iraker umzubringen". Und die vermuteten Motive lauten: Sie wollen den Widerstand diskreditieren. Wenn die Gefahr des Bürgerkriegs droht, müssen sie bleiben. Sie erfinden die Qaida als Akteur und haben so eine Begründung, um sich unter der Fahne des Kampfes gegen den Terrorismus weltweit breitzumachen.
Auch der Anschlag auf das UN-Hauptquartier am 19.8.2003 wird den USA angelastet. De Mello hatte zuvor schwere Anklagen gegen das Vergehen der Besatzungsmächte erhoben. Nun ist diese Kontrollinstanz beseitigt, und die unliebsame Konkurrenz aus den Ländern, die nicht zur "Koalition der Willigen" gehörte, vertrieben.
Diese Meinungen sind resistent gegen Argumente. Es übersteigt das Vorstellungsvermögen der Iraker, daß die Besatzungsmächte ohne Konzept in den Krieg gezogen sind und mit den komplexen Verhältnissen in diesem überaus schwierigen Land, über dessen Innenstrukturen sie kaum etwas wußten, schlicht und einfach überfordert sein könnten. Auch wird übersehen, daß die US-Armee sich am meisten selbst geschadet hat, als sie die riesigen Waffenlager der Armee fand, aber nicht sicherte und somit eine vorzügliche Bewaffnung des Widerstandes zuließ.
Man könnte diese Auffassungen als absurd abtun, die keiner weiteren Erwähnung wert sind, wenn sie nicht allgemeine Überzeugung wären – alle Iraker, mit denen ich gesprochen habe, sind in dieser Einschätzung einer Meinung.
Da die virtuelle Realität, die subjektiv für wahr gehaltene Wirklichkeit, genauso die Handlungen motiviert wie Schlußfolgerungen, die aufgrund von objektiv verifizierbaren Fakten gezogen werden, und da ferner Kontrollinstanzen, die über öffentliche Diskussion, demokratische Mehrheitsbildung usw. einen gesellschaftlichen Konsens finden, im Irak noch völlig fehlen, liegt hier ein sehr gefährliches Potential, das dem Widerstand zuspielt und auch die Basis für die Verbreiterung des Aufstands bilden kann. Die Dynamik dieses Prozesse kann man nur im Inneren einschätzen.
Gab es nicht in den USA eine breite Masse, die überzeugt war, daß Saddam hinter den Anschlägen vom 11. September steckte, und die deshalb den Kriegsgang gegen den Irak befürwortete? So sind die Iraker überzeugt, daß sie das Opfer einer gezielten Strategie der Supermacht sind, die sie dauerhaft unterwerfen will.
Das irakische Kulturerbe: Wiederaufbau und weitere Zerstörung
Im April letzten Jahres gingen nach der Plünderung des Nationalmuseums in Bagdad Tartarenmeldungen um die Welt, die überall die Öffentlichkeit schockierten ("die schlimmsten Zerstörungen seit dem Mongolensturm"). Die Besatzungsmächte hatten tagelang Plünderungen und Brandschatzungen zugelassen, die die Infrastruktur des Staates verwüsteten. Betroffen waren auch die kulturellen Einrichtungen, nicht nur das Nationalmuseum, sondern ebenso die Universitäten, Bibliotheken, Archive, Kunst- und Kulturzentren, historische Denkmäler – von der "systematischen Zerstörung der Kultur des Irak" war die Rede.
Es folgten dann die nicht weniger dramatischen Berichte über die landesweite Ausplünderung der archäologischen Stätten – das Weltkulturerbe der Sumerer, Babylonier und Assyrer war durch flächendeckende Raubgrabungen in Gefahr.
Die große Entwarnung erfolgte am 3. Juli. Einen Nachmittag lang wurde im Nationalmuseum auf das Betreiben der amerikanischen Zivilverwaltung hin der Goldschatz ausgestellt, der aus den Königinnengräbern der alten assyrischen Hauptstadt Nimrud stammte – einer der prachtvollsten Goldfunde in der Geschichte der Archäologie. Dieser Schatz war der Weltöffentlichkeit zuvor kaum bekannt geworden; erst kurz vor dem Kuweit-Krieg entdeckt, war er nur ganz kurze Zeit ausgestellt gewesen. Seit 1990 ruhte er im Tresor der Zentralbank. Plünderer versuchten zwar, auch diesen Tresor – genauso wenig geschützt wie andere Einrichtungen – aufzubrechen, doch scheiterten sie an seiner massiven Konstruktion.
Nun sollte die spektakuläre Präsentation den Fernsehzuschauern in aller Welt demonstrieren, daß die besten Stücke des kulturellen Erbes sicher und in guten Händen waren.
Diese Ausstellung war von einer geschickten PR-Kampagne begleitet, deren Botschaft lautete: "Alles nicht so schlimm." Verwirrung war zwischendurch entstanden durch höchst unterschiedliche Angaben über die Zahl der Verluste – von 33 bis über 170.000 war die Rede. Diese Differenzen wurden als gezieltes Täuschungsmanöver der Antikenverwaltung dargestellt, als unseriöse Übertreibung und Stimmungsmache. Die irakische Direktion war als unglaubwürdig diffamiert; es habe folglich keinen Sinn, ihre Angaben ernst zu nehmen.
In Wirklichkeit hatte aber gerade der international renommierte Museumsdirektor Donni Geoge Youkhanna die Verhältnisse stets korrekt und präzise wiedergegeben. Bei der unteren Minimalzahl handelte es sich um die Objekte aus den Ausstellungsräumen, die bei der ersten kurzen Inspektion unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen als verschwunden identifiziert werden konnten. Bei der oberen Zahl war der Gesamtbestand der Inventarnummern des Museums gemeint. Es hatte allerdings nie jemand von der Antikenverwaltung behauptet, daß ein Totalverlust eingetreten wäre, sondern im Gegenteil war der Unterschied zwischen den gesicherten und den möglichen Verlusten immer deutlich erklärt worden. Doch oft ohne Kontext wiedergegeben und ohne den Prozeß der kontinuierlichen Schadensaufnahme zu verdeutlichen, waren diese scheinbaren Widersprüche auch nur schwer zu verstehen.
Seitdem ist es in den Medien relativ still geworden – nicht Untergang oder Rettung des kulturellen Erbes, sondern vor allem die katastrophale Sicherheitslage steht im Vordergrund der Berichte.
Wie sieht die Bestandsaufnahme ein Jahr nach dem Krieg aus? Es könnte widersprüchlicher kaum sein:
Das Nationalmuseum in Bagdad
Wie alle wichtigen öffentlichen Gebäude gleicht auch das Iraq Museum einem Hochsicherheitstrakt. Vorbei sind die Zeiten, als man mit dem Auto einfach auf den Hof vor das Hauptgebäude fuhr. Die Zugänge sind verschlossen, lediglich in weiter Entfernung vom Museumseingang gibt es einen Einlaß, an dem jedes Auto, jede Tasche sorgfältig kontrolliert werden, und erst nach gründlicher Leibesvisitation und Befragung wird Zutritt gewährt.
Das Museum war vor einem Jahr in einem schlimmen Zustand. In tagelangen ungestörten Plünderungen waren die Magazine ausgeraubt worden. Die Mitarbeiter überprüfen seitdem akribisch Raum für Raum, alle Schränke, Regale und Kisten und gleichen die noch vorhandenen Bestände mit den Inventaren ab.
Von den insgesamt ungefähr einer halben Million Objekten, die das Museum beherbergt hat, sind definitiv ca. 15.000 Stücke gestohlen worden. Etwa die doppelte Anzahl wurde bei den Plünderungen beschädigt oder zerstört, vieles wird sich jedoch restaurieren lassen. Die Verluste waren ursprünglich noch größer, doch in der Zwischenzeit wurden einige tausend Objekte konfisziert oder zurückgebracht. Diese Angaben sind allerdings auch wiederum erst eine Zwischenbilanz, denn die Bestandsaufnahme wird angesichts der Fülle des Materials noch ein weiteres Jahr benötigen.
Weniger spektakulär, aber dennoch sehr bedrohlich waren die Schäden, die während des 13jährigen Embargos entstanden waren, durch Vernachlässigung, fehlende Laborausstattung oder durch die Einflüsse des extremen subtropischen Klimas (die meiste Zeit hatte das Museum nicht einmal eine Klimaanlage, obwohl diese seit 1990 bezahlt und exportfertig in einem japanischen Hafen lag – als "Dual-use"-Produkt fiel sie unter die Wirtschaftssanktionen, man hätte damit auch eine Chemiefabrik kühlen können). Als Folge solcher Bedingungen sind allein von der Tontafelsammlung, die ca. 70.000 Keilschrifttexte umfaßt und die von den Plünderern nicht entdeckt worden war, inzwischen etwa 40 Prozent zerfallen oder beschädigt.
In wildem Wandalismus hatten die Plünderer außerdem den größten Teil der Arbeitsräume so sehr verwüstet, daß fast nichts mehr zu gebrauchen war und erst eine vollständige Neueinrichtung das Museum wieder funktionstüchtig machen konnte. Glück im Unglück: Die alles vernichtende Brandschatzung blieb aus, die Inventarbücher, Grabungsdokumentationen, Buchbestände sind erhalten.
Eines der bedeutendsten Museen der Welt war eine Ruine. Die Hilfsmaßnahmen haben eingesetzt und können gute Erfolge vorweisen. Die Innenräume sind renoviert und werden nach und nach modern eingerichtet. Die Archivbestände werden systematisch dokumentiert, und auch die Restaurationsarbeiten haben begonnen. Führende internationale Museen beteiligen sich, zahlreiche Regierungen und Institutionen haben Finanz- und Sachmittel bereitgestellt, Fachleute sind vor Ort und bilden Restauratoren aus. Zusätzlich wurde inzwischen mehr als 20 Angestellten eine mehrmonatige Schulung im Ausland ermöglicht, um den Rückstand an Erfahrung und technologischen Kenntnissen aufzuholen. Auch Deutschland steht nicht abseits: Das Deutsche Archäologische Institut in Berlin hat mit Finanzmitteln des Auswärtigen Amtes 68 Spezialschränke für die Tontafelsammlung angeschafft.
Das Konzept sieht vor, daß das Iraq Museum in einigen Jahren so eingerichtet ist, wie es dem modernen internationalen Standard entspricht.
Dennoch bereitet sich die Direktion schon wieder auf das Schlimmste vor. Die innere Lage im Irak ist hochexplosiv, jederzeit können Aufstände ausbrechen; wenn das Land im Chaos versinkt, wird wohl wieder eine neue Welle von Plünderungen losgehen.
Entsetzen hat deshalb bei den Fachleuten kürzlich eine Ausschreibung der amerikanischen Zivilverwaltung ausgelöst, die detaillierte Pläne des gesamten Museums im Internet veröffentlicht hat. Eine hervorragende Einweisung für Plünderer, sehr viel gründlicher und effektiver als nach dem letzten Krieg ans Werk zu gehen, wenn die Ordnung erneut zusammenbricht!
Der Untergang des mesopotamischen Kulturerbes
Das Schlimmste – vom Antikendienst für das Nationalmuseum in Bagdad erst befürchtet – ist außerhalb der Hauptstadt auf dem weiten Land schon eingetreten. Die Besatzungsmächte haben über einige derjenigen Gebiete im Südirak keinerlei Kontrolle mehr, in der die wichtigsten Stätten der jahrtausendelang blühenden sumerischen und babylonischen Hochkultur liegen. Man hat sie praktisch aufgegeben und als Beutegut der lokal ansässigen Bevölkerung überlassen, die nun unermüdlich aus dem Boden herausholt, was sie finden kann – in Unkenntnis des unwiederbringlichen Verlustes, der so angerichtet wird; befeuert vom unersättlichen internationalen Antikenhandel.
Die Zahl der registrierten antiken Orte beläuft sich auf 10.000, ihr Gesamtumfang wird auf 100.000 geschätzt. Kaum eine andere Nation der Erde verfügt über historische Hinterlassenschaften in dieser Dichte. Der Irak ist geradezu ein einziges archäologisches Gelände – und unter den jetzigen Umständen ein Eldorado für Raubgräber.
Raubgrabungen haben eine lange Tradition. Das große Interesse, das die Wiederentdeckung des Alten Mesopotamien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Abendland gefunden hatte, zog nicht nur die Archäologen ins Land, die die Funde aus den lizenzierten Kampagnen dann ins Ausland schafften. Der Boden lag voller Schätze; zehntausende Objekte wurden heimlich ausgegraben und füllten weltweit die Museen. Das Sammeln altorientalischer Antiquitäten war damals allerdings mehr eine Liebhaberei begrenzter Kreise, die Dynamik der modernen profitmaximierenden Vermarktung und der grenzenlosen Sammelleidenschaft fehlte noch. Die technischen Hilfsmittel, die der Landbevölkerung zur Verfügung standen, konnten außerdem nicht die großflächigen Schäden bewirken, die jetzt zu verzeichnen sind.
Nach der Unabhängigkeit 1932 nahm sich der neu aufgebaute irakische Antikendienst der Pflege des Kulturerbes an, das dann in den Jahrzehnten vor 1990 durch ein vorbildliches Antikengesetz und effektive Schutzmaßnahmen bestens gesichert war; es gab weder illegale Grabungen noch Museumsdiebstähle noch einen Schwarzmarkt für Antiquitäten. Erst nach dem Kuweit-Krieg wurden in den nachfolgenden Wirren einige Provinzmuseen geplündert, und deren Bestände (insgesamt über 4.000 Objekte) verschwanden – bis heute sind nur wenige Stücke wieder aufgetaucht.
In der Embargozeit entdeckte ein international operierendes Netz von Schmugglern und Händlern die Möglichkeiten, mit irakischen Antiquitäten Geschäfte zu machen und zwar mit astronomischen Gewinnspannen. Die verarmte Landbevölkerung war dringend auf Einkunftsquellen angewiesen und wurde zu illegalen Grabungen angestiftet, die sich zu einem weit verbreiteten Handwerk entwickelten.
Der irakische Antikendienst war schlecht ausgestattet. Das Embargoregime verhinderte die Lieferung von moderner technologischer Ausrüstung, die – wie schnelle geländegängige Fahrzeuge oder Helikopter – die effektive Unterbindung ermöglicht hätte, und Unterstützung aus dem Ausland wurde als illegal behandelt. Der Antikendienst unternahm zwar verzweifelte Anstrengungen, die wichtigsten historischen Stätten zu schützen, was in vielen Fällen auch gelang, aber angesichts der großen Zahl der antiken Ruinen insgesamt ein aussichtsloses Unternehmen bleiben mußte. Vertrieb man die Raubgräber von einer Stelle, setzten sie ihr zerstörerisches Werk in nur geringer Entfernung weiter fort.
Die geraubten Objekte wurden über die langen offenen Grenzen in die Nachbarländer geschmuggelt und dann weltweit auf dem Antiquitätenmarkt angeboten. Zehntausende von ihnen wurden auf diese Weise ins Ausland geschafft und überschwemmten den Markt. Einige reiche Privatsammler haben sich in den letzten zehn Jahren solch umfangreiche Sammlungen zusammengekauft, daß diese in ihrer Bedeutung an die Kollektionen der großen Museen, die ihre Bestände während der Kolonialzeit füllten, heranreichen. Der Irak hatte als "Schurkenstaat" keine Lobby, und es gab keine rechtlichen Maßnahmen zur wirksamen Unterbindung dieses Raubes.
Der unwiderrufliche Schaden entsteht dadurch, daß auf der Suche nach Schätzen die Architektur so sehr zerstört wird, daß den wissenschaftlich kontrollierten Ausgrabungen im Nachhinein die Rekonstruktion des archäologischen Zusammenhanges nicht mehr möglich ist. Niemand weiß nach dem Werk der Raubgräber, woher die Objekte stammen, und ihr Kontext, der für ihre Interpretation und die Rekonstruktion untergegangener Kulturen entscheidende Informationen liefert, ist für immer zerstört. Auf der Suche nach verkaufbaren Objekten, die vielleicht nur ein Prozent des gesamten archäologischen Bestandes ausmachen, werden bis zu 100 Prozent der Informationen vernichtet.
Nach dem Zusammenbruch des irakischen Staates im April 2003 hat die Ausplünderung des kulturellen Erbes geradezu industriellen Maßstab angenommen. Tag für Tag, Nacht für Nacht ziehen gegenwärtig hunderte, wenn nicht tausende Arbeiter auf die Ruinen (vor allem im Südirak), durchwühlen und zerstören sie. Die Schäden, die innerhalb des letzten Jahres auf diese Weise entstanden sind, sind größer als alle diejenigen, die in insgesamt 150 Jahren Raubgrabungsgeschichte angerichtet wurden.
Die Besatzungsmächte sind mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt, können nur einige Stützpunkte halten und wissen schon die aufständischen Milizen in den Städten nicht zu bändigen. Auf dem Lande herrschen jetzt wie in den alten Zeiten vergangener Jahrhunderte die Stämme. Diese Stammesstrukturen, die sich nach dem Mongolensturm 1258 herausgebildet hatten, dominierten bis in die Ära des modernen Nationalstaates im 20. Jahrhundert. Einzige Autorität ist der Scheich, und es werden ausschließlich die eigenen Regeln anerkannt. Wenn unerwünschte Fremde erscheinen, sind sie ihres Lebens nicht sicher.
Mit am schlimmsten betroffen ist Isin, eine uralte sumerische Metropole, die zwei Jahrhunderte lang (von 2000 – 1800 v. Chr.) das politische und kulturelle Zentrum Babyloniens war. Isin ist neben Babylon, Assur und Uruk die wichtigste deutsche Ausgrabungsstätte in Mesopotamien; von 1973 – 1989 haben Archäologen unter Leitung des Direktors des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der Universität Münschen, Prof. Hrouda, systematisch in der Quadratkilometer großen Ruine die Geheimnisse aus der Zeit der frühen Hochkultur ausgegraben.
40 km von der Provinzhauptstadt Diwanija entfernt, liegt Isin mitten im Stammesgebiet und ist nur von Ortskundigen auf schwierigen Pisten zu erreichen. Als Epigraphist hatte ich dort bei beiden letzten Ausgrabungen 1988-89 mitgearbeitet und dann das Schicksal der Ruine während des 13jährigen Embargos verfolgt.
Einige Besuche Mitte der 90er Jahre konnte ich zwar nur unter dem Begleitschutz von bewaffneten Soldaten unternehmen – auch damals waren die südirakische Stammesgebiete sehr unsicher –, aber Isin lag unberührt in der ländlichen Abgeschiedenheit wie die Jahrtausende zuvor.
Bei meinem letzten Besuch im Januar 2003 erlebte ich jedoch einen gewaltigen Schock. Dutzende riesige Raublöcher, viele mehrere Meter tief, ein Netzwerk von unterirdischen Stollen und Tunneln hatten den Kernbereich der alten Hauptstadt in eine Mondlandschaft verwandelt. Der Fortgang der Zerstörungen durch Raubgräber nach dem letzten Krieg ist dann von einigen Journalisten, aber auch von fachkundigen Archäologen verfolgt worden, vorzugsweise aus der Luft, denn die Anreise über Land ist inzwischen kaum noch möglich. Augenzeugen berichteten von zeitweise Hunderten von Raubgräbern, die den Flugzaungästen fröhlich zuwinkten, denn es war ihr Land, in dem sie sich völlig sicher fühlten.
Die Zerstörungen haben nicht mehr nur den Kernbereich erfaßt, sondern sie erstrecken sich seit einigen Monaten über das gesamte Ruinengelände.
Meine beiden Versuche, im März 2004 nach Isin zu gelangen, scheiterten an dem Umstand, daß ich diese Inspektion aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überlebt hätte. Ein irakischer Vorbote, der die Verhältnisse vor Ort erkunden sollte, kehrte um; zuvor war ein anderer Bekannter auf dieser Strecke erschossen worden. Die Situationsanalyse mit dem Chef einer irakischen Sicherheitstruppe, der mich mit zwei gepanzerten Geländewagen und einigen bewaffneten Bodyguards dorthin führen wollte, ergab, daß als Szenario eine Schlacht mit den Stammeskriegern zu erwarten war.
Ein amerikanischer Journalist (Journalisten gelten im allgemeinen nicht als Störenfriede und werden am ehesten toleriert) wollte mich begleiten. Er beschloß dann nach meinem Rückzieher, alleine die Verhältnisse zu explorieren, und schickte mir anschließend folgenden Kurzbericht:
"Ich fuhr nach Diwanija allein mit meinem Fahrer. Wir trafen dort seinen Cousin, blieben eine Stunde bei ihm und aßen zu Mittag. Wir hatten vor, danach mit dem Direktor des Antikendienstes zu sprechen. Da erhielt der Cousin den Hinweis zugesteckt, daß eine Gruppe von Leuten auf der Suche nach dem Auto mit dem Journalisten war, weil sie uns angreifen wollten. Wir mußten vom Mittagessen aufspringen und mit höchster Geschwindigkeit fliehen. Ich will eine andere Gelegenheit herausfinden, nach Isin zu gelangen, ohne dabei getötet zu werden."
Mondlandschaft überall im Südirak – dutzende alter Städte sind praktisch von der Oberfläche verschwunden. Die Besatzungstruppen halten sich bedeckt. Der Schutz des kulturellen Erbes Mesopotamiens ist nicht ihre Sache. Sie haben in jeder Hinsicht so viele Probleme, daß sie sich nicht auch noch mit den Stämmen, in deren Gebiet viele altorientalische Kulturzentren liegen, anlegen wollen. Appelle aus der wissenschaftlichen Szene sind unerwünscht, penetrante Mahner werden sanktioniert. Auch vom engagierten irakischen Antikendienst in Bagdad, der nur einen Bruchteil der Herkulesaufgabe bei der Rettung des nationalen Erbes bewältigen kann, traut sich niemand in die südirakischen Stammesgebiete.
Doch nicht überall im Irak herrschen die gleichen katastrophalen Verhältnisse. Im Norden, wo die Zerstörungen insgesamt ohnehin geringer waren, werden die alten Hauptstädte der Assyrer – Ninive, Nimrud und Assur – jetzt durch Wächter geschützt. Allerdings ist auch hier an die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Forschung nicht im entferntesten zu denken. Kürzlich wurde der Leiter der irakischen Ausgrabungen von Assur auf dem Weg zu dieser Stätte von Wegelagerern angeschossen und so schwer verletzt, daß er wenig später im Koma starb.
Auch im Süden gibt es Lichtblicke. Die Italiener nehmen sich sehr engagiert der Sicherung der archäologischen Stätten in ihrer Zone um Nassirija an. Sie bilden in großer Zahl Wächter aus; diese werden mit moderner Technik ausgerüstet und überwachen das Gelände, so daß in dieser Region eine bemerkenswerte Stabilisierung beim Schutz der Ruinenplätze bewirkt werden konnte.
In Einzelfällen haben die Ausgräber in Jahrzehnten ein so gutes Verhältnis mit den lokalen Stämmen aufgebaut, daß diese jetzt den Schutz der Ruine zu ihrer Aufgabe gemacht haben. So blieb erfreulicherweise Uruk, die Hauptstadt der Sumerer und eine Domäne deutscher Archäologie im Irak, sowohl während des Embargos, als auch in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Staates weitgehend von den Verwüstungen durch Raubgräber verschont.
Die Wurzel des Übels liegt indessen nicht im Südirak, wo hungernde Bauern mit antiken Stücken ein paar Dollar verdienen können, sondern im florierenden Antikenhandel. Die Gier der Sammler, weit entfernt vom Überlebenskampf der irakischen Bevölkerung, die astronomischen Gewinnspannen der Händler, vergleichbar nur mit den Profiten aus Rauschgift- und Menschenhandel, das internationale rechtliche Vakuum schaffen erst die Voraussetzungen für dieses Desaster.
Deutschland leistet dabei gute Mitarbeit. Während Großbritannien und die Schweiz, früher Drehscheiben des legalisierten Antikenschmuggels, inzwischen vorbildliche Schutzgesetze erlassen haben, ziert sich die Bundesregierung, die UNESCO-Resolution von 1970 zu ratifizieren. Sie "prüft" immer noch die Ratifizierung – mit anderen Worten: Sie unterstützt den Fortgang der Vernichtung des mesopotamischen Kulturerbes, denn bislang ist der Handel mit geraubtem irakischem Kulturgut in Deutschland völlig legal, sofern nicht der Diebstahl eindeutig nachgewiesen werden kann. Dies ist vielleicht bei gut dokumentierten Stücken aus Museumsbeständen möglich, aber niemals bei unbekannten Objekten anonymer Herkunft. Erst die Umkehr der Beweispflicht, der obligatorische Nachweis des legalen Erwerbs, und wirksame Strafmaßnahmen können die Finanzierung der Raubgrabungen unterbinden oder zumindest erschweren.
Beim Elfenbeinhandel zum Schutz der Elefanten waren solche Schutzmaßnahmen erfolgreich – im Falle des irakischen Kulturerbes haben sie noch nicht viel Wirkung gezeigt. Und so geht weiterhin Tag für Tag das Erbe eines der reichsten Kulturnationen der Erde für immer verloren.
10. Juni 2004 Prof. Dr. Walter Sommerfeld