Sie ist so zierlich und klein, dass man sie kaum hinter dem Rednerpult sieht. Doch Dahlia Wasfis tief-rauchige Stimme beherrscht den Saal, und die Amerikanerin hat eine Botschaft: Sie lehnt die amerikanische Besatzung des Irak strikt ab. Mit der Forderung nach dem Abzug der Soldaten reist sie seit rund zwei Jahren durch die USA, von Konferenz zu Konferenz, von Tagung zu Tagung. Sie hat ihren Beruf als Medizinerin aufgegeben, sich eine Einzimmer-Wohnung gesucht und ist auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen.
Immer mehr Amerikaner zweifeln inzwischen am Irak-Engagement ihres Landes und fragen, wie man es möglichst schnell beenden und die Soldaten heimholen kann. Eine Menge Leute in den USA versuchen mittlerweile, darauf zu antworten, ehemalige Kriegsbefürworter wie Politiker, Kriegsveteranen wie Exil-Iraker. Dahlia Wasfi treiben eigene, familiäre Motive: Die 36-Jährige hat einen moslemischen Iraker zum Vater und eine jüdische Mutter, deren Familie 1933 aus Österreich in die USA emigrierte. Ein Teil ihrer Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen lebt in New York, der andere Teil im Irak. Sie hat ihre Familie in Basra nach der US-Invasion zwei Mal besucht.
Motivation: Familiengeschichte
Bei ihren öffentlichen Auftritten zeigt sie Familienfotos: eine Aufnahme von ihrem Vater an der Universität in Bagdad, im Kreis seiner Kommilitonen, ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern, Kinderbilder von ihr selbst, aktuelle Aufnahmen in Basra und Pressefotos aus dem Irak mit Toten, zerstörten Häusern, Müllbergen und kranken Kindern. Sie erzählt ihre Familiengeschichte.
Dahlias Vater wird 1937 in Basra geboren und geht dort zur Schule. Als am 14. Juli 1958 der von der damaligen Kolonialmacht Großbritannien eingesetzte König gestürzt und die Republik Irak ausgerufen wird, studiert der Vater in Bagdad Chemie. Mit dem Geld aus der verstaatlichten Erdöl-Industrie wird eine rasante Modernisierung finanziert: Es entstehen Schulen, Krankenhäuser, Industrieanlagen, eine effiziente Verwaltung, aber auch eine hochgerüstete Armee. Die Jugend wird zum Studieren ins Ausland geschickt. Dahlias Vater bekommt 1965 ein Stipendium, um an der Universität in Washington seinen Doktor zu machen. Er lernt das jüdische Mädchen kennen, das dort Internationale Beziehungen studiert. 1968 heiraten sie.
"Meine jüdischen Großeltern waren überhaupt nicht begeistert. Aber dann haben sie es akzeptiert. Und schließlich kamen wir Enkelkinder: 1969 meine Schwester Yasmin, 1971 wurde ich geboren und zehn Jahre später mein Bruder Ammar." Als sich ihre Eltern kennenlernten, sagt Dahlia Wasfi, ging es vor allem um den Palästinakonflikt. "Sie haben aber nicht für die eine oder andere Seite Partei ergriffen. Sie setzten sich für Gerechtigkeit ein", sagt Dahlia Wasfi. "Besatzung ist immer ungerecht und zerstörerisch, sei es in Palästina, sei es in Afghanistan oder eben in Irak."
1972 siedelt die Familie nach Basra über, wo der Vater an der Universität lehrt und sein Stipendium abzahlen muss. Saddam Hussein ist noch nicht Staatschef, aber der starke Mann im Hintergrund. Im Irak herrscht ein Klima der Angst und des Misstrauens. 1977 geht die Familie daher zurück in die USA - zwei Jahre, bevor Saddam Hussein offiziell die Macht ergreift. Drei Jahre bevor er den Krieg gegen den Iran beginnt.
"All das habe ich erst in den letzten Monaten erfahren, weil ich gefragt und viel gelesen habe", sagt Dahlia Wasfi. "Meine Eltern sprachen nie darüber. Wir waren normale, amerikanische Kids, mit Interesse für Musik, Mode, Baseball."
Dahlia Wasfi geht zur Schule, besucht das College und studiert Medizin. "Als 1990 der Golfkrieg zur Befreiung Kuwaits begann, war ich noch auf dem College. Mir war zwar bewusst, dass ich im Irak Verwandte habe, mein Vater schickte ihnen regelmäßig Geld", sagt sie, "aber dieser Krieg war mir so fern wie vielen anderen Amerikanern."
1997 beginnt sie ihre Facharztausbildung. Sie reagiert auf die Terroranschläge am 11. September 2001 entsetzt, wie all ihre Freunde. Aber sie bekommt die Folgen anders zu spüren: "Ich sehe arabisch aus, ich habe einen arabischen Namen. Plötzlich schlug mir Ablehnung entgegen. Ärzte in meinem Krankenhaus erklärten, dass sie keine Araber mehr behandeln wollten. Einer plädierte dafür, dass man auf die Herkunftsländer der Terroristen Atombomben werfen sollte." Sie bekommt Depressionen, nimmt eine Auszeit und flüchtet sich in die Familie ihrer Schwester.
Ein Ereignis, fern von den USA und dem Irak bringt die Wende. "Am 16. März 2003 überrollte ein israelischer Bulldozer die amerikanische Studentin Rachel Corrie, tötete sie, als sie in Gaza gegen die Zerstörung von Häusern protestierte", erzählt die junge Frau. "Rachel Corrie hatte keine Verwandten in Palästina. Ich aber hatte Familienangehörige in dem Land, das die USA angreifen wollten - und ich tat nichts." Am 21. März, fünf Tage nach Rachel Corries Tod, begann die Bombardierung des Irak.
Ein Jahr später fliegt Dahlia Wasfi dann erst nach Jordanien, von dort begleiten sie Cousinsüber Bagdad nach Basra. "Die Stadt war deprimierend: Viele Gebäude waren zerstört. Die Stadt war verrottet. Es gab keine Müllabfuhr. Es herrschte Gesetzlosigkeit." Da konnte sie nicht ahnen, dass alles noch schlimmer werden würde.
"Ich hatte meinen Cousins versprochen wiederzukommen. Im März 2006, trotz Aufstand, Geiselnahmen und Bürgerkrieg, fuhr ich wieder hin." Es habe ein unvorstellbares Klima der Angst geherrscht, beschreibt sie die Lage zu jener Zeit. Die Stadt wurde von Milizen kontrolliert. "Ich habe meine Familie in Basra durch meine Anwesenheit gefährdet", sagt Dahlia Wasfi, "und sie hatten Angst um mich. Ich durfte das Haus nur wenige Male tief verschleiert verlassen. Aber mir wurde endlich klar, dass ich mit meinen Steuern die Besatzung bezahle, ich also für ihr Elend mit verantwortlich bin. Sie haben keinen Anwalt, der für sie spricht."
Eine öffentliche Person
Nach ihrer Rückkehr im Frühjahr 2004 nimmt Dahlia Wasfi Kontakt zur Bewegung Colorado-Kommunen für Gerechtigkeit und Frieden auf, sie spricht auf deren Jahreskonferenz. Aber erst nach ihrem Auftritt vor dem Kongress im Frühjahr 2006 wird sie landesweit bekannt. Fortan wird sie zu Tagungen und Kundgebungen überall in den USA und auch Europa eingeladen. Sie zeige ihre Fotos und erzähle stets das Gleiche: "Das ist kein Krieg gegen den Terror sondern ein Krieg des Terrors, den wir führen. Ich beschreibe die Zustände in Basra. Ich sage, dass es nur eine Lösung gibt: Wir müssen uns sofort und bedingungslos zurückziehen."
Beim Stichwort Rückzug wird sie energisch: "Wie es dann im Irak weitergeht, weiß niemand", sagt sie, "aber wir garantieren: Es wird keine Bombardierungen mehr geben, keine US-Gefängnisse im Irak, keine US-Waffen für Todesschwadronen, keine Folterungen von Irakern durch Amerikaner. Kein US-Soldat wird mehr im Irak morden, kein US-Soldat im Irak sterben."
Ihre Regierung brauche für diesen Krieg zwei Dinge: öffentliche Unterstützung und Soldaten. Die Unterstützung hätten sie schon verloren, sagt Dahlia Wasfi. "Die Soldaten sind der Schlüssel. Wenn du meinst, dass dieser Krieg ungerecht und die Besatzung zerstörerisch ist - dann tu was! Unterstütze Organisationen wie die Irak-Veteranen gegen den Krieg. Hilf Soldaten, die desertieren oder die in US-Militärgefängnissen sitzen, weil sie den Dienst verweigerten", sagt sie. Nicht Desertion und Befehlsverweigerung seien illegal, sondern dieser Krieg und das, was die Soldaten im Irak anrichteten.
"Wir müssen endlich begreifen", sagt die jüdisch-arabische Amerikanerin, "dass sie uns nicht wegen unserer Freiheiten und Werte hassen, sondern wegen der Dinge, die wir ihnen antun."