Irak: Alternativen zu Krieg und Besatzung (7.-9. März, Berlin)
Ansprache zur Eröffnung der internationalen Konferenz
Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D.
Sprecher der Initiative „Diplomaten für den Frieden mit der islamischen
Welt“
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde des Friedens zwischen Europa und unseren islamischen
Nachbarregionen.
Vor 5 Jahren, am 20. März 2003, begannen die USA ihre Aggression gegen
Irak.
Heute wissen wir, dass diese Aggression der Auftakt einer Politik des
gesamten „Westens“ – bei aller nicht zu vergessender Differenzierung –
gegenüber der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens war, deren
Ziel seine Hegemonie über jene an Energierressourcen jener Region ist.
Das ist der Kern, in dem man sich einig ist. Der sogenannte Kampf gegen
den Terrorismus ist längst an zweite oder dritte Stelle gerückt.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie einen Zirkel, stecken diesen bei
Basra in eine Landkarte und schlagen mit ihm einen Radius von ca. 800
Km, dann finden Sie innerhalb dieses Radius’ 75% der Erdöl- und
Erdgasressourcen der Welt. Sie zu beherrschen, ist der eigentliche Sinn
jener Strategie. Irak und das irakische Volk wurden deren erste Opfer.
Meine Damen und Herren, schaut man heute, nach fünf Jahren, auf die
Lage in dieser Region, so kann man nicht umhin festzustellen, dass sie
sich in einem derart instabilen Zustand befindet, dass die Frage
berechtigt, ob sich Europa vor seiner Haustür eine neue
Konfliktsituation schafft. Sie könnte gefährlicher werden, als der
israelisch-palästinensische Konflikt. Mit diesem konnten Europa, ja
sogar die Region selbst über nahezu sechzig Jahre leben. So gefährlich
er stets war und ist und so sehr er schnellstmöglicher Beendigung
bedarf, so hat er doch Europas Sicherheit nicht wirklich gefährdet.
Nunmehr könnte sich das mit den neuen Konflikten und Zuspitzungen sowie
der tiefen anti-westlichen Stimmung in der Region ändern.
Die Lage ist heute schlechter, als vor dem 11.September 2001.
Quantitativ, weil die Anzahl der Konfliktherde gewachsen ist.
Qualitativ, weil deren Konfliktinhalte schwieriger und explosiver
geworden sind.Geographisch, weil sich die Zone der Konflikte nach Iran,
Afghanistan und Pakistan ausgeweitet hat, somit auch Süd-Westasien zu
erfassen beginnt.
Die neue Qualität macht auch aus, dass praktisch alle Konfliktherde mit
westlicher Einmischung verbunden sind. Einige sind das Ergebnis
direkter Aggression oder Kriege, andere der Manipulation interner
Konfliktkonstellationen zugunsten westlicher Interessen:
* In Irak, ist, neben einer Million Gewalttoter und
Verwundeter, die innere Stabilität auf lange Sicht untergraben. Mit
unvorhersehbaren Folgen für die gesamte Region, bis hin zur Gefahr des
Staatszerfalls, von Millionen Flüchtlingen und möglicherweise der
Zuspitzung regionaler Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten.
* Das Verhältnis mit den Herrschaftsträgern des Iran
befindet sich in einer ernsten Krise. Der hauptsächliche Grund liegt in
der von der Bushadministration betriebenen Politik des “Regime Change“,
die auch einige EU-Staaten tolerieren. Für Iran ist der Westen
„Feind“ geworden. Der Streit um die Atomanreicherung kann als Ausfluss
dieser Konstellation gelten.
* Auch in Syrien und Libanon trachten der
Westen, insbesondere die USA und Frankreich danach, die
Machtkonstellationen zu ihren Gunsten zu verändern. Das „System Assad“
setzen sie unter Druck: Entweder es orientiert sich zu seinen Gunsten
um und kündigt seine strategische Allianz mit Iran auf, oder ihm droht
Isolierung von der Regelung des Nahostkonflikts, konkret in der
Gholanfrage. Im Libanon betrachtet der Westen die Hizbollah als seinen
und Israels Feind und unterstützt deren Gegner. Auf diese Weise wird in
beiden Staaten die ohnehin latente Spaltung von Gesellschaften und
politischen Akteuren mit dem Risiko des Destabilisierens der letzten
beiden säkularen Staaten im arabischen Osten vorangetrieben.
* Der israelisch-palästinensische Konflikt bleibt
trotz oder vielleicht wegen der von Bush initiierten Konferenz von
Annapolis weit von einer Regelung entfernt. Die Bushadministration
schuf für sich in Annapolis ein Einflussmonopol auf diesen Konflikt und
seine Regelung. Alle neuen „Facilitatoren“ sind handverlesen - drei
US-Generäle plus Blair. So werden multilaterale Regelungsmechanismen,
wie das Nahost-Quartett, geschwächt und eine
regionale arabische Mitwirkung, wie in Gestalt des Arabischen
Friedensplans, unterlaufen. Die auch von der EU betriebene Isolierung
von Hamas spaltet und schwächt die Palästinenser zugunsten der
israelischen Position am Verhandlungstisch, was einer gerechten
Zweistaatenregelung schadet. Annapolis hat die VN weitgehend aus dem
Spiel verdrängt, wie auch die Implementierung der UN-Beschlüsse zum
Nahostkonflikt. Europa hat sich dieser US-Linie unterworfen. Das Ganze
läuft auf noch radikaleren Widerstand aus der neuen und so schwierigen
Quadratur Iran-Hizbollah-Hamas-Jihad hinaus.
* Der Westen positioniert sich konfrontative
gegenüber „politischem Islam“, Islamismus und islamischen Bewegungen.
Buchstäblich Alle und Alles, die der Westen mit jenen Phänomenen in
Verbindung bringt, stigmatisiert er als Terroristen, “neuen Feind der
westlichen Zivilisation“. Diese Positionierung ist deshalb mehr als
kurzsichtig, weil es Europa davon abhält, sich auf die neuen
gesellschaftspolitischen Entwicklungstendenzen in dieser Region
einzustellen. Sie laufen im Kern darauf hinaus, dass islamische
gesellschaftliche Opposition weiter zunehmen wird. Für eine solche
Perspektive haben die EU-Staaten keine konfliktentschärfende Strategie.
* Zum ersten Mal in der Geschichte seiner Beziehungen zum Nahen und
Mittleren Osten führt der gesamte Westen in dieser Region massiv
Kriege. Zum Kriegsschauplatz Irak kam der afghanische. Das Bekenntnis
deutscher Militärs, dass die Taliban militärisch nicht besiegt werden
können [1], offenbart, dass die NATO inzwischen um
mehr, als einen Sieg über die Taliban kämpft. Ihr geht es darum,
als überlegener Sieger aus ihrem Afghanistanabenteuer herauszukommen,
um international das Gesicht zu wahren. Aber diese Zielwandlung
verändert den Charakter des Afghanistaneinsatzes und damit auch der
VN-Mandatserfüllung grundsätzlich: Die NATO kämpft um die Hegemonie des
Westens über diese Region und darüber hinaus.
* Die Konfliktfront erweitert sich geographisch. Offensichtlich wird
Pakistan zu einem weiteren „Gefechtsfeld“ zwischen anti-westlichen und
pro-westlichen Kräften. Noch ist der Ausgang offen. Deutlich wird
jedoch, dass sich der Westen zum Schutz seiner Verbündeten in immer
mehr Scharmützel mit deren zumeist islamischen Opponenten verwickelt.
Verteidigungsminister Jung sprach auf der Münchner Sicherheitskonferenz
im Februar 2008 offen aus, dass die Bundesregierung bereit ist, sich in
dieses neue Konfliktfeld zu stürzen, indem er ermahnte: „wir müssen bei
der Einbindung der Nachbarstaaten, allen voran Pakistans,
weiterkommen.“ [2] Autoritäre Regimes, wie das
Musharafs und dessen Atomwaffen, nimmt er dabei in Kauf.
* Im Nahen und Mittleren Osten wird die Nahostpolitik der Regierung
Merkel zunehmend kritischer bewertet. Schon die Aufforderung des
ehemaligen SPD - Verteidigungsministers Struck, „Deutschlands
Sicherheit müsse am Hindukusch verteidigt werden“ hatte dort für
größtes Befremden gesorgt. Inzwischen bemerken selbst
deutschlandfreundliche liberale, säkulare arabische Kreise, dass die
Regierung Merkel ihre Nahostpolitik einer neuen Prioritätensetzung
untergeordnet hat. In ihrer strategischen Vorrangliste USA,
transatlantische Allianz, NATO, EU, Antiterrorstrategie sei auch
Israels Sicherheit auf einen vorderen Platz gerückt. Der „Rest“ der
Region, so meint man in diesen Kreisen, werde unter dem Gesichtspunkt
des Wohlverhaltens gegenüber jenen Prioritäten „bewertet“ oder als
„Freund oder Feind“ von Islamismus. Diese neue
Freund-Feindbezugsordnung für internationales Verhalten macht arabische
diplomatische Kreise fassungslos, weil es den Staat als Beziehungsgröße
ablöst. Des Weiteren sehen diese Kreise ihre Region von westlichen
Streitkräften militärisch eingekreist: um den Nahen und Mittleren Osten
herum, im Mittelmeer, in Nordafrika, von Zentralasien und dem Kaukasus
aus. Für sie bedeutet dies ein drastisches Sicherheitsdefizit.
Wir haben es also heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit
einer außerordentlich komplizierten Situation zu tun, welche
Europa zutiefst schadet. Insbesondere die Unterwerfung europäischer und
deutscher Nahostpolitik unter eine von den USA dominierte
Antiterrorstrategie stellt die Idee von einem europäischen
Stabilitätsraum grundsätzlich in Frage. Solange die Bundesrepublik und
die EU ihre Nachbarschaftspolitik gegenüber dem Nahen- und
Mittleren Osten als ein regionales Szenario dieser Strategie verstehen
und verfolgen, wird es nicht gelingen, das Verhältnis zu seinen
islamischen Nachbarregionen auszubalancieren. Eine solche Strategie ist
nicht geeignet, die auf der arabischen und islamischen Seite weit
verbreitete negative Wahrnehmungsperspektive abzubauen, derzufolge
Europa das Subjekt von Interessenpolitik ist, während die nah- und
mittelöstlichen (islamischen) Regionen deren Objekt sind. Eine solche
Zweitklassigkeitswahrnehmung belastet das Verhältnis zu Europa aufs
Schwerste und belässt es in seiner Krise.
Meine Damen und Herren, worin könnten Alternativen bestehen? Vor allem
ist eine Richtungsentscheidung zu Gunsten einer Politik zu treffen, die
das Verhältnis zu den islamischen Nachbarregionen langfristig zu einem
Modus vivendi friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit führt. Im Kern
ginge es dabei um das Herausfinden der Voraussetzungen für, einerseits,
Zusammenarbeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten und, andererseits,
gewaltfreie Koexistenz in solchen Fragen, in denen Widersprüche
bestehen.
Für eine solche Richtungsentscheidung, meine Damen und Herren, sprechen
alle wichtigen entscheidungsrelevanten Kriterien – die Stabilität des
geostrategischen Gesamtraumes Europa und seiner südlichen
Nachbarregionen, Energiesicherheit, innere europäische Stabilität und
Integration muslimischer Bevölkerung, Sicherheitswahrnehmungen seitens
der südlichen Nachbarstaaten, deren Verzicht auf Atomwaffen,
europäische Nachbarschaftspolitik im Mittelmeerraum, schwierigeres
gesellschaftspolitisches Umfeld in der Region.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, schließlich mit der
Feststellung enden: 85% der Deutschen sind gegen den Einsatz der
Bundeswehr in Afghanistan. Die erdrückende Mehrheit unseres Volkes ist
gegen neue Kriege und für den Erhalt des Friedens. Die Bundesregierung
nimmt das nicht nur nicht zur Kenntnis. Sie führt ihre jetzige
gefährliche Politik fort, stellt die Bürger vollendete Tatsachen und
missachtet deren Friedenswillen.
Dagegen Druck zu machen ist jetzt wichtig. Er ist nicht nur eine
Frage unseres Verhältnisses zu den islamischen Nachbarregionen, sondern
vor allem auch von größter innenpolitischer Bedeutung. Nämlich die
wichtigste Lehre zweier Weltkriege nicht in Frage stellen zu lassen,
die darin besteht, dass Krieg niemals mehr als Mittel der Politik
rehabilitiert werden darf!
Lassen Sie uns in diesem Sinne aktiv werden!
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[1] Vizeadmiral a.D. Hans Frank in der Phoenix-Runde
„Verteidigung am Hindukusch – Die Bundeswehr in Kriseneinsätzen“,
12.2.2008. In gleicher Runde fragte der Vorsitzende des
Bundeswehrverbandes, Gertz, ob denn Afghanistan militärisch zu
stabilisieren sei oder wir nicht gerade lernen, was die Sowjets
erfahren mussten.
[2] Jung, Münchner Sicherheitskonferenz,
http://www.securityconference.de/Konferenz/2008/index.php?