Warum brauchen wir ein Tribunal?

Von Norman Paech (Professor für öffentliches Recht)

aus Friedensjournal, November/2003

Es ist derzeit keine Institution in Sicht, die das ausgräbt, säubert und dokumentiert, was wirklich im Zusammenhang mit dem Irakkrieg geschehen ist, um wenigstens dem irakischen Volk später die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Geschichte von den Umhüllungen der Propaganda und Verfälschungen zu befreien. Wie schwierig das ist, haben uns die Recherchen des Journalisten Seymour M. Hersh gezeigt, der knapp 10 Jahre benötigte, um die Kriegsverbrechen des US-Generals Barry Mc Caffrey im zweiten Golfkrieg 1991 aufzudecken und zu publizieren (Overwhelming Force. What  happened in the final days of the Gulf War? The New Yorker, Mai 2000).

Es gibt eine Institution, die eine solche Aufgabe übernehmen und mit der notwendigen Unabhängigkeit durchführen könnte, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Er aber ist schon vor seiner Arbeitsaufnahme durch die Ausnahmen zugunsten der USA paralysiert worden. Den  Nürnberger Prozessen gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg, Kriegsverbrechen nicht nur zu sühnen, sondern vor allem zu dokumentieren und  beweiskräftig der Nachwelt zu überliefern. Diese Aufgabe galt seitdem als Vorbild für die Konzeption internationaler Strafgerichtsbarkeit, sie droht  jedoch in der Konstruktion der modernen Tribunale als Siegerjustiz unterzugehen.

Unabhängig davon, wo die geplanten Prozesse gegen das alte Regime und mit welchem Ergebnis sie geführt werden, sie werden nur die Hälfte der Wahrheit umfassen. Den Krieg der Koalition, u. zw. seit seinem Beginn mit der Einrichtung der Flugverbotszonen 1991 und ihren regelmäßigen Bombardierungen werden sie weiter im Dunkeln lassen. Es ist also notwendig, auf eine Institution zurückzugreifen, die 1967 auf Initiative von Lord Bertrand Russel erstmals als „Internationales Tribunal über die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam“ der angegriffenen Seite international  Gehör verschaffte. Mangels einer internationalen Gerichtsbarkeit sollte das Tribunal diese nicht ersetzen. Es sollte mit den Methoden des Prozesses und  seines rechtlichen Instrumentariums vor allem über den wahren Ablauf des Krieges, seine politischen, militärischen und ökonomischen Hintergründe  informieren und die Verstrickung der einzelnen Regierungen in den Krieg und die Verstöße gegen das Völkerrecht auf klären. Nicht die ohnehin nicht  mögliche Sanktion, sondern die Wahrheit war das Ziel.

Das Vietnam-Tribunal wurde Vorbild für zahlreiche weitere - nach dem Tod Lord Russels von Lelio Basso fortgeführt. Sie erweiterten ihre Funktion  und nahmen sich globaler nicht-militärischer Probleme wie der Verschuldung und Umweltzerstörung an, sie verloren an Resonanz. In jüngster Zeit  allerdings nahm die Friedensbewegung die Tradition wieder auf. Sie nahm den NATO-Angriff gegen Jugoslawien zum Anlass, die vom Haager Tribunal  verweigerte Untersuchung der Kriegsführung der NATO-Staaten zum Gegenstand zahlreicher internationaler Tribunale zu machen.

Der Verlauf des Irak-Krieges und die Verweigerung seiner Aufklärung verlangen nach einem neuen Tribunal. Nicht nur die drei Wochen der offenen  Invasion, sondern die langen Jahre des verdeckten Krieges in den sog. Flugverbotszonen, die verschwiegenen Geschäfts- und politischen Beziehungen  zwischen den späteren Kriegsgegnern, das Verwirrspiel um die Massenvernichtungsmittel und die Instrumentalisierung der Waffeninspektoren, die  Methoden der Beweisführung der Kriegskoalition, die Rolle der Nachbarstaaten und der Medien – es liegen zu viele Zweifel und Unklarheiten auf dem  Weg zu einem objektiven und glaubhaften Bild von diesem Krieg. Es ist bestimmt nicht möglich, auf all diese Fragen die erhofften Antworten und letzte  Klarheit zu bekommen. Aber es müssen Beweise gesichert und Quellen der Information erschlossen werden. Was geschehen ist, was sich ereignet hat  muss für weitere und spätere Untersuchungen zugänglich und offen gehalten werden, damit die Suche nach der Wahrheit nicht schon bald in der  Sackgasse verschütteter Fakten und davor aufgestapelter Lügen stecken bleibt.

Wichtig ist dabei das Kriterium der Wahrheit und Objektivität, welches an die erkundete Realität angelegt wird. Es kann nur in einem Maßstab  universaler Gültigkeit liegen, der von keiner partikularen Moral etwa angegriffen und in Frage gestellt werden kann. Und dieser kann schließlich nur aus  dem Recht und den Gesetzen stammen, welche die Staaten sich selbst gegeben haben – daher die Anlehnung an die juristische Methode eines  Tribunals, welches noch immer von den Nürnberger Prinzipien  bestimmt wird. In den Worten Sartres:

„Das Statut des Nürnberger Militär-gerichtshofs ist deshalb von historischer Bedeutung, weil das ius ad bellum darin in ein ius contra bellum  verwandelt wird: die Aggression wird zu einem Verbrechen gegen den Frieden erklärt... Die Gesetze wurden so genau auf Hitlers Schandtaten  abgestimmt, dass die Alliierten nicht merkten, dass sie auch auf ihre eigenen angewendet werden konnten. Angriffs- und Eroberungskriege,  Massenmord an Zivilisten, standrechtliche Erschießungen, Misshandlungen von Gefangenen, Foltern, Völkermord: all das wurde damals zum  Verbrechen erklärt. Mit Recht: aber diese brisanten Bestimmungen hätten, nachdem sie es ermöglicht haben, Göring auf die Anklagebank zu bringen, in  der Folge dazu führen können, dass Salazar wegen seiner Angolapolitik oder - wer weiß? – ein französischer oder englischer Minister unter Anklage  gestellt wurde... Im Zusammenhang mit den schwersten internationalen Verbrechen – der Aggression – sagte der Hauptankläger Jackson, der im  Namen der Vereinigten Staaten sprach, sogar unvorsichtigerweise: „Obwohl diese Gesetze zum ersten Mal auf die deutschen Aggressoren angewendet  werden, so können doch – wenn sie wirklich von Nutzen sein sollen – andere Anwendungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden; jede  Aggression muss verurteilt werden, gleichviel, welcher Staat sich ihrer schuldig gemacht hat, die Staaten, die hier die Verhandlungen führen, nicht  ausgeschlossen.“

Solange diese Staaten das jedoch zu verhindern wissen, bleibt nur die Organisation eines Tribunals der Völker, um der Strategie des Vergessens des Krieges und der Erosion des Rechts entgegenzutreten.