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Bodycount für Bush

Wissenschaftler stellen neue Studie vor: Mehr als 650000 Iraker infolge von Krieg und Besatzung gestorben
Von Rüdiger Göbel und Joachim Guilliard
13.10.2006 / Schwerpunkt / Seite 3
http://www.jungewelt.de/2006/10-13/046.php

Im Irak sind nach einer regierungsunabhängigen Untersuchung fast 655.000 Menschen durch die Folgen des US-Krieges und der anhaltenden Besatzung ums Leben gekommen. Dies geht aus einer Studie amerikanischer und irakischer Ärzte hervor, die am Donnerstag vom renommierten britischen Medizinjournal The Lancet veröffentlicht wurde. Sie untermauert eine vor zwei Jahren erschienene Einschätzung, wonach es bis zum damaligen Zeitpunkt rund 100.000 Menschen infolge der US-Invasion gestorben waren [siehe auch: Die verheimlichten Opfer 30.000,100.000 oder mehr – wie hoch ist die Zahl der Opfer von 3 Jahren Krieg und Besatzung im Irak.] Seitdem hat sich die Situation im Irak dramatisch verschlechtert. Nur Stunden, nachdem erste Vorabberichte über die neuen Schreckenszahlen veröffentlicht worden waren, bezeichnete US-Präsident George W. Bush sie als »unglaubwürdig«. Auch das Pentagon wies die Angaben umgehend zurück. Es habe »keinesfalls mehr als 50.000 Tote« gegeben, betonte der Kommandeur der Besatzungstruppen im Irak, General George Casey.

Landesweite Umfrage

Im Gegensatz zu Bushs spontaner Zurückweisung sind die neuen Todeszahlen aus dem Irak wissenschaftlich fundiert. Unter der Leitung von Gilbert Burnham und Les Roberts hatten Wissenschaftler von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore im US-Staat Maryland und der Al-Mustansiriya-Universität in Bagdad für die jetzt veröffentlichte Untersuchung 1849 Haushalte mit knapp 13.000 Menschen an 47 zufällig ausgewählten Orten im besetzten Zweistromland besucht. Dort fragten sie nach Geburten, Todesfällen und Abwanderung zwischen Januar 2002 und Juni 2006. Ihr Ergebnis: Die Sterberate im Irak ist seit Beginn der Besatzung von 55 auf 133 Tote pro 10.000 Einwohner gestiegen. Die Ergebnisse der Befragung wurden auf Iraks Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen hochgerechnet. Demnach sind nach Schätzungen zwischen 393.000 und 943.000 Iraker durch Kriegsfolgen gestorben. Als wahrscheinlichster Wert wurde die Zahl von 654.965 Opfern berechnet. Rund 600.000 Menschen kamen demnach direkt durch Gewaltanwendung ums Leben, mehr als 50.000 zusätzlich durch Krankheiten, etwa infolge des weiter verschlechterten Gesundheitssystems. Die Autoren der Studie betonen, daß die Datenbasis »extreme Unsicherheiten« berge. Wegen der gefährlichen Sicherheitslage im Land hätten nur wenige Teams vor Ort kurze Befragungen durchführen können. Zudem könnten Todesfälle verschwiegen worden sein.

Washingtons Spin-Doktoren machen sich daran, die Studie »The Human Cost of War in Iraq« zu diskreditieren. In der US-Presse wurde bereits moniert, zu wenige Iraker seien befragt worden. Das Team um Gilbert Burnham und Les Roberts von der John-Hopkins-Universität verweist dagegen darauf, daß der Studie gängige wissenschaftliche Kriterien zugrunde gelegt wurden, die nicht zuletzt auch von US-Behörden zur Ermittlung von Opferzahlen bei anderen Konflikten angewandt würden.

Kritiker monieren zudem das große Intervall von knapp 400.000 bis über 900.000, in dem die Zahl der Opfer mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent liegt. Dies beweise die »völlige Ungenauigkeit der Untersuchung. Doch was besagen die Zahlen tatsächlich? Einzig, daß die Wahrscheinlichkeit, daß weniger als 400.000 Iraker getötet wurden, bei unter 2,5 Prozent liegt! Sollten 400.000 Tote infolge von Bushs Krieg und Besatzung aber keinen Aufschrei wert sein? In jedem Fall liegen selbst die untersten Angaben weit von den Angaben des US-Präsidenten entfernt. Der hatte Ende vergangenen Jahres behauptet, daß etwa 30.000 Zivilisten seit Beginn der Kampfhandlungen getötet wurden.

Tatsächliche Schwächen

Ohne Zweifel hat die Studie ihre Schwächen. So wird bei den Tätern nur zwischen »Koalitionskräften« und Irakern unterschieden. Häufigste Todesursache waren mit 53 Prozent Schußverletzungen, 18 Prozent wurden durch Autobomben getötet, zwölf Prozent durch Luftangriffe. 31 Prozent der 600.000 getöteten Menschen wurden direkt von US-geführten Besatzungstruppen getötet. Dies erweckt den Eindruck, daß sich die Iraker vor allem gegenseitig erschießen. Was fehlt, ist aber die Angabe, wieviele der Toten von den irakischen Armee- und Sicherheitskräften umgebracht wurden, die ja schließlich unter dem Befehl der Besatzer agieren. Nach 2004, d.h. dem Zeitraum der ersten Studie, wurden anstelle der US-Truppen mehr irakische Einheiten bei Angriffen, Razzien und an den unzähligen Checkpoints im Land eingesetzt. Zwangsläufig stieg dadurch die Zahl derer, die durch irakische Hilfstruppen getötet wurden.

Für wirkliches Aufsehen sorgen wird in den kommenden Tagen allein die Zahl 3.000. So viele US-Soldaten zahlten dann Bushs Krieg am Golf mit ihrem Leben.


Der Report zur Studie im renommierten britischen medizinischen Fachmagazin, The Lancet v. 13.10.2006
Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey

Die Studie selbst:
Gilbert Burnham, Shannon Doocy, Elizabeth Dzeng, Riyadh Lafta, Les Roberts
The Human Cost of the War in Iraq 2002-2006 
sowie die Anhänge: Appendices