Verschleiern von Verbrechen
Wie viele Menschenleben haben die Besatzer im Irak auf dem
Gewissen? Eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation rechnet die
Zahl der Opfer klein
Von Joachim Guilliard
junge Welt, 12.02.2008 / Thema / Seite 10
Bagdad im Oktober 2006 - Die Fachzeitschrift
The Lancet zählte 601000 Kriegstote seit der Besetzung des Irak
Foto: AP
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Das irakische Gesundheitsministerium hat mit Unterstützung der
Weltgesundheitsorganisation WHO eine repräsentative Haushaltsumfrage im
Irak durchgeführt, die »Iraq Family Health Survey« (IFHS). In deren
Rahmen wurde u. a. auch nach der Zahl der in den letzten Jahren
gestorbenen Familienmitglieder sowie nach den Todesursachen gefragt.
Das New England Journal of Medicine veröffentlichte im Januar eine
darauf basierende Studie über gewaltsame Todesfälle im Land. Demnach
starben von März 2003 bis Juni 2006 ungefähr 151000 Irakerinnen und
Iraker eines gewaltsamen Todes. [1]
Drei Studien konkurrieren
Der Untersuchungszeitraum war so
gewählt worden, daß die Ergebnisse direkt mit einer ähnlichen Studie
der Johns Hopkins University vergleichbar sind, die im Oktober 2006 in
der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet
veröffentlicht worden war. Diese Studie ergab, daß in besagter Zeit
über 650000 Menschen an den Folgen von Krieg und Besatzung starben,
601000 davon durch Gewalt. Deren Ermittlungen zufolge hatte sich die
Zahl der Gewaltopfer jedes Jahr fast verdoppelt, von 90000 über 180000
auf 330000. [2]
Die Studie stieß, wie schon die erste, 2004 ebenfalls in
The Lancet veröffentlichte Untersuchung, im Westen auf heftige
Ablehnung. Entgegengehalten wurden ihr von Politik und Medien vor allem
die Zahlen des Iraq Body Count (iraqbodycount.org),
der für denselben Zeitraum 47000 getötete Zivilisten registriert hatte.
Dabei waren anfänglich auch diese Zahlen, obwohl sie nur die Fälle
enthalten, über die in renommierten englischsprachigen Medien berichtet
wurde, als völlig überzogen abgekanzelt worden. Doch als die erste
Lancet-Studie sehr überzeugend eine weit höhere Zahl von Opfern
nahelegte, wurde die Arbeit der Forschungsgruppe Iraq Body Count
plötzlich zur unanfechtbaren Autorität erklärt.
Das deutet schon
an, welche politische Brisanz in diesen Statistiken steckt. Auch wenn
die von Iraq Body Count ausgewiesenen Zahlen an sich schon erschreckend
hoch sind, so scheinen sie für die meisten Medien im Rahmen eines
Krieges noch tolerabel und auch gut mit dem Bild einer überbordenden
religiös motivierten Gewalt verträglich. Die Ergebnisse der
Lancet-Studien hingegen spiegeln die Dimension eines Völkermords wieder
– ein eindeutiges Verbrechen, das auch mit dem besten Willen nicht mehr
mit »Befreiung« oder »Demokratisierung« gerechtfertigt werden kann.
Die
Führung der US-Armee hat gleich zu Beginn der Invasion im März 2003
betont, sie würden keine Opfer auf irakischer Seite zählen. »We don’t
do body counts«, so der Kommandeur der Invasionstruppen, General Tommy
Franks. Als Reaktion darauf begannen britische Wissenschaftler das
Projekt Iraq Body Count (IBC). Es wurde zur bekanntesten Unternehmung,
die Zahl der Opfer im Irak abzuschätzen; auf zahllosen kriegskritischen
Webseiten findet man den IBC-Zähler. So verdienstvoll das Projekt ist,
die hier angegebenen Minimum- und Maximumwerte gaukeln eine Genauigkeit
vor, die es nicht bieten kann. Das Projekt erfaßt in seiner Datenbank
nur getötete Zivilisten, über die in renommierten englischsprachigen
Medien berichtet wurde, ergänzt um Daten irakischer Leichenschauhäuser.
Das kann, wie auch Iraq Body Count auf seiner Homepage angibt, nur ein
Bruchteil der tatsächlichen Opfer sein. Tatsächlich werden in
Kriegsphasen meist weniger als zehn Prozent der Opfer durch sogenannte
passive Ermittlungen erfaßt.
Durch die Beschränkung auf
Zivilisten kommt zudem ein sehr subjektives Moment hinzu. Wie können
Journalisten z. B. feststellen, ob ein Getöteter tatsächlich ein
Kämpfer war, wie von der US-Armee – die Hauptquelle westlicher
Agenturen – in der Regel behauptet wird. Und selbst wenn er bewaffnet
war, so ist doch auch er ein Opfer des von den USA begonnenen Krieges.
Grundsätzlich unerkannt bleibt schließlich die große Zahl der
Todesfälle, die nur indirekt auf den Krieg oder die Besatzung
zurückzuführen sind.
Wer die humanitären Kosten des Krieges
genauer abschätzen will, der muß vor Ort die Familien nach der Zahl der
Toten befragen, die sie zu beklagen haben. Das wurde sowohl im Rahmen
der Lancet-Studie als auch der IFHS-Studie getan. Basis der
Lancet-Studie, die von einem amerikanisch-irakischen Team unter Leitung
renommierter Wissenschaftler der Bloomberg School of Public Health an
der Johns Hopkins University durchgeführt wurde, war die Befragung
einer repräsentativen Auswahl von 1850 Haushalten im gesamten Land.
Insgesamt waren knapp 13000 Personen in die Studie einbezogen. Erfaßt
wurden die Todesfälle sowohl in den 15 Monaten vor als auch in den 40
Monaten nach Beginn des Krieges. Für 90 Prozent der Todesfälle lagen
Todesscheine vor.
Die Sterblichkeit wuchs demnach von 5,5 Toten
pro tausend Einwohner im Jahr vor Kriegsbeginn auf 13,3 in der Zeit
danach. Die Differenz ergibt die Zahl der Menschen pro Tausend, die
ohne Krieg und Besatzung noch leben würden. Hochgerechnet auf die
Gesamtbevölkerung von etwa 26 Millionen und einen Zeitraum von knapp 40
Monaten sind dies 655 000. Dies ist zwar nur ein Schätzwert, die
Genauigkeit läßt sich aber statistisch exakt bestimmen. Die
tatsächliche Zahl der Opfer liegt demnach mit 95prozentiger
Wahrscheinlichkeit zwischen 390000 und 940000, dem sogenannten
»95-Prozent-Konfidenzintervall«. Eine Zahl um 655000 ist dabei am
wahrscheinlichsten, d.h., höhere oder tiefere Zahlen werden mit dem
Abstand zu diesem Wert rasch unwahrscheinlicher. Die
Wahrscheinlichkeit, daß die tatsächliche Zahl der Opfer unter 600000
liegt, beträgt weniger als 20 Prozent, daß sie unter 390000 liegt, nur
noch 2,5 Prozent. Die Zahl der gewaltsamen Todesfälle wurde auf
dieselbe Weise auf 601000 geschätzt, mit einem Konfidenzintervall von
426000 bis 794000.
Methodische Grundlagen
»Wir zählen die Toten nicht.« US-Soldaten bei ihrer alltäglichen Besatzungsarbeit (Mosul, 21.11.2004)
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Opferzahlen
von solchen Dimensionen könnten, wenn sie in die breite Öffentlichkeit
gelangen, massive Empörungen über das US-geführte Irak-Unternehmen der
westlichen Staaten schüren. Die Mainstreammedien bemühten sich daher
rasch um Schadensbegrenzung. Konsequent wurden die Lancet-Studien
mißachtet oder durch die Charakterisierung »methodisch umstritten«
diskreditiert. Tatsächlich gibt es nur wenige Wissenschaftler, die die
Studie grundsätzlich in Frage stellen. In den Medien wird diesen jedoch
viel Raum eingeräumt und ihre Kritik immer wieder aufgewärmt, letztes
Jahr beispielsweise, kurz vor dem vierten Jahrestag des Krieges, in
einer von der Londoner Times ausgehenden Medienkampagne, die auch vom
Spiegel aufgegriffen wurde. Die Antworten der Autoren auf die Vorwürfe
hingegen findet man, von wenigen Ausnahmen wie BBC und The Independent
abgesehen, nur in alternativen Medien. Besonders verdient hat sich in
diesem Zusammenhang die britische medienkritische Organisation
MediaLens (medialens.org)
gemacht (siehe z.B. “Democracy
and Debate - Killing Iraq”, MediaLens, 18.10.2006.
In
Fachkreisen sind die Lancet-Studien keineswegs umstritten. Die sehr
orthodox durchgeführten Studien wurden stets von nahezu allen befragten
Experten als valide und methodisch korrekt bezeichnet (siehe J. Guilliard,
"Opferzahlen ein Politikum"). Die Ergebnisse
beider Studien stimmen zudem gut überein und werden auch durch eine
jüngere Umfrage des britischen Instituts Opinion Research Business
bestätigt. Dieses schätzte auf Basis von 2414 befragten Haushalten, daß
die Zahl der Opfer bis September 2007 auf zirka eine Millionen
angestiegen war, eine Zahl die auch durch Extrapolation der
Lancet-Zahlen zu erwarten war. [3]
Nach derselben Methode wie die
Lancet-Studien waren auch die Opferzahlen im Kongo oder in Darfur
geschätzt worden, zum Teil sogar von denselben Wissenschaftlern.
Während die für Darfur ermittelte Zahl von 200000 Opfern sich in
Resolutionen des Sicherheitsrates wiederfindet und Grundlage einer
breiten Kampagne gegen den Sudan ist, wurden die Zahlen zum Irak als
»spekulativ« verworfen.
Die neue, von der WHO betreute Erhebung
basiert zwar ebenfalls auf einer repräsentativen Umfrage, weicht jedoch
methodisch recht stark von den Lancet-Studien ab. Die IFHS-Studie
basiert auf einer Umfrage bei 9345 Haushalten mit 61636 Personen. Elf
Prozent der ausgewählten Haushalte konnten aus Sicherheitsgründen nicht
besucht werden. Da die Wissenschaftler aufgrund von Vergleichszahlen
vermuten mußten, daß sie nur 65 Prozent aller Todesfälle ermittelt
konnten, wurden die gefundenen Zahlen entsprechend nach oben
korrigiert. Weitere Anpassungen sollten u. a. Ungenauigkeiten durch die
starken Flüchtlingsbewegungen kompensieren. Die Zahlen für die Gebiete,
in denen keine Umfragen stattfinden konnten, wurden mit Hilfe von Daten
des Iraq Body Count aus anderen Gebieten hochgerechnet.
Die im
New England Journal of Medicine veröffentlichten Statistiken
beschränken sich auf die Zahl der gewaltsamen Todesfälle und schätzen
ihre Zahl schließlich auf 151000 Tote. Das
95-Prozent-Konfidenzintervall wird mit 104000 bis 223000 angegeben.
Mängel der IFHS-Studie
In den Berichten über die neue Studie
wird vor allem die viel größere Zahl der befragten Familien
hervorgehoben. Für die meisten ist dies gleichbedeutend mit größerer
Genauigkeit und somit Glaubwürdigkeit. Tatsächlich ist das von ihr
ausgewiesene Konfidenzintervall deutlich enger, als das der
Lancet-Studie von 2006. Während diese Studie das Intervall auf
klassischer Weise, d.h. direkt aus den ermittelten Daten berechnete,
wurden bei von den Wissenschaftlern der WHO Verfahren angewandt, mit
deren Hilfe vor allem die Unsicherheiten der diversen
Anpassungsfaktoren abgeschätzt werden sollten. Pierre Sprey,
Statistikexperte des US-Magazins Counterpunch, der die neue Studie
insgesamt als »schludrig« einstuft, hält diese Methode für »reine
Spekulation«.[4]
Die
Zahl der Befragten ist ohnehin nur ein Kriterium für die Genauigkeit,
weit wichtiger ist die Qualität der Arbeit. Die Zahl, der für die
Lancet-Studie Befragten, genügt an sich durchaus, um mit ausreichender
Sicherheit Aussagen über die Sterblichkeit im Irak treffen zu können.
Mit unterschiedlicher Genauigkeit sind die Unterschiede zwischen den
Studien nicht zu erklären.
»Auch wenn die Genauigkeit solcher
Zahlen immer ein Problem ist«, schrieben 27 führende Experten auf dem
Gebiet der Bevölkerungsstatistik in einem offenen Brief an die
australische Tageszeitung The Age, mit dem sie sich hinter die
Lancet-Studie stellten, »so können wir doch sicher sein, daß die Zahl
von zusätzlichen Toten über 390000 liegt und tatsächlich sogar bis zu
940000 betragen könnte«. Laut IFHS-Studie müßte die Zahl der Opfer
jedoch mit gleich hoher Sicherheit unter 223000 liegen. Die Autoren der
neuen Studie behaupten daher schlicht, die Lancet-Studie würde die Zahl
der Gewaltopfer »beträchtlich überschätzen« – Gründe dafür geben sie
jedoch nicht an. Es gibt aber nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben
die Wissenschaftler der Lancet-Studie Tote erfunden oder die IFHS weist
zu wenige aus.
Die Zahlen der IFHS-Studie legen eindeutig
letzteres nahe. So blieb ihren Ergebnissen zufolge die Zahl der Opfer
zwischen 2003 und 2006 nahezu konstant. Dies steht jedoch im krassen
Widerspruch zu der ab Frühjahr 2005 zu beobachtenden Eskalation der
Gewalt im Land, die sich in allen anderen Statistiken, vom Iraq Body
Count bis zu denen irakischer Leichenschauhäuser widerspiegelt. Diese
zeigen fast denselben prozentualen Anstieg von Gewaltopfern wie die
Lancet-Studie auch.
Der relativ geringe Anteil von Gewaltopfern
an der Gesamtzahl der Toten steht gleichfalls im völligen Widerspruch
zu den registrierten Fällen. Die IFHS verzeichnet zwar durchaus eine
massive Zunahme der Sterblichkeit, ihrer Schätzung nach ist diese nur
zu einem Drittel auf einen Anstieg von Gewaltopfern zurückzuführen.
Laut Lancet-Studie besteht die Zunahme jedoch fast ausschließlich aus
gewaltsamen Todesfällen – ein Ergebnis, das durch die Daten von
Kranken- und Leichenhäuser ebenfalls voll und ganz bestätigt wird.
Einen
möglichen Grund für die geringere Zahl von Gewaltopfern geben die
Autoren des Artikels im New England Journal of Medicine selbst an.
Ausgerechnet die Gebiete Bagdads und der Provinzen Anbar und Ninive,
die das höchste Gewaltniveau aufwiesen, mußten aus Sicherheitsgründen
von der Befragung ausgenommen werden, immerhin elf Prozent der
Stichprobe. Die IFHS-Statistiker behalfen sich, wie bereits erwähnt, in
dem sie die erfaßten Zahlen mit Daten des Iraq Body Count für diese
Gebiete hochrechneten. Doch gerade aus diesen stark umkämpften Gebieten
gab es die wenigsten Berichte und dadurch finden sich auch nur relativ
wenige Todesfälle von dort in der Datenbank des Projekts.
Der
hauptsächliche Grund liegt jedoch in der prinzipiellen Anlage der
Studie selbst. Interessanterweise weichen die IFHS- und die
Lancet-Studie in bezug auf nicht gewaltsame Todesfällen gar nicht weit
voneinander ab. IFHS schätzt die Zahl für die drei Jahre nach
Kriegsbeginn auf 372 pro Tag, die Lancet-Studie auf 416. Auch die
Zunahme der Gesamtzahl von Todesfällen liegt nicht weit auseinander.
Hatte sich gemäß IFHS die jährliche Zahl der Toten nach der Invasion
ungefähr verdoppelt, so stieg sie gemäß Lancet-Studie um das 2,4fache.
Auf
diesen massiven Anstieg von Todesfällen allgemein, der sich aus ihren
Daten ablesen läßt, gehen die Autoren des irakischen
Gesundheitsministeriums und der WHO aber an keiner Stelle ein. Er kann
nur auf den Krieg und die Besatzung zurückzuführen sein. Wie sonst soll
z.B. die von IFHS verzeichnete Zunahme krankheitsbedingter Todesfälle
um 65 Prozent zu erklären sein?
Die Fokussierung auf Gewaltopfer
ist offensichtlich keine wissenschaftliche, sondern eine rein
politische Entscheidung – eine Form der Selbstzensur, durch die allein
schon das wahre Ausmaß der humanitären Katastrophe und die
Verantwortung der USA und ihrer Verbündeten dafür verschleiert wird.
Eine Beschränkung auf gewaltsame Todesfälle ist zudem recht
willkürlich. Stirbt eine Schwangere, die es wegen anhaltendem
Bombardements nicht mehr ins Krankenhaus schafft, nicht genauso durch
kriegerische Gewalt, wie die von den Bomben direkt Getroffenen?
Die
von der Studie ausgewiesene Zunahme von Verkehrstoten um das 3,7fache
deutet zudem darauf hin, daß die Unterscheidung von »gewaltsam« und
»nicht gewaltsam« recht kreativ vorgenommen wurde. Dies nährt die
ohnehin schon starken Zweifel an der Unabhängigkeit einer Untersuchung,
die unter Federführung eines irakischen Ministeriums durchgeführt
wurde. Schließlich sind die Ministerien von den engsten Verbündeten der
USA besetzt und völlig abhängig von der Besatzungsmacht. Wie wenig dem
Gesundheitsministerium an der Wahrheit über die Zahl der
Besatzungsopfer gelegen ist, hat es letztes Jahr deutlich demonstriert:
Auf Druck der USA untersagte es – ungeachtet heftiger Proteste der UNO
– den Kranken- und Leichenhäusern des Landes, die Daten über die von
ihnen registrierten Todesfälle herauszugeben. Die US-Regierung wollte
auf diese Weise sicherstellen, daß ihre Meldungen über die Erfolge
ihrer neuen Strategie nicht durch harte Zahlen widerlegt werden.
Die
Tatsache, daß Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums die Interviews
führten, ist vermutlich ein weiterer gravierender Grund für die viel zu
geringe Zahl von erfaßten Gewaltopfern. Die meisten Iraker mißtrauen
der Regierung, und viele dürften sich hüten, Regierungsangestellten den
gewaltsamen Tod eines Familienmitglieds zu verraten und so womöglich
die Aufmerksamkeit der Besatzer oder ihrer Verbündeten auf sich zu
lenken. Gefährlich ist dies ja nicht nur dann, wenn der Mann oder der
Sohn bei Auseinandersetzungen mit Besatzungstruppen oder
Sicherheitskräften getötet wurde, sondern auch, wenn die Angehörigen
Milizen oder Todesschwadronen zum Opfer fielen. Schließlich werden die
Täter häufig in den Reihen von Milizen der Regierungsparteien und der
von diesen stark durchsetzten Polizei vermutet.
Bei einer
früheren Studie hielt dasselbe Team, das nun die IFHS durchführte, die
Mortalitätsrate zunächst ebenfalls für zu niedrig. Als es die Familien
noch einmal genauer nach gestorbenen Kindern fragte, verdoppelten sich
seine Zahlen. Auch dies ist ein Indiz für das Mißtrauen der
Interviewten oder für unprofessionelles Vorgehen der Interviewer.
Wer tötete?
Die Veröffentlichung im New England Journal of
Medicine wirkt wie ein Versuch, Informationen über die humanitären
Kosten des Krieges zu gewinnen, dem durch politische Vorgaben von
vorneherein die Brisanz genommen wurde. Da die errechneten Opferzahlen
wesentlich höher sind als die des Iraq Body Count, sind sie für
Washington sicherlich nicht gerade bequem. Andererseits ist die neue,
mit dem WHO-Label versehene Studie sehr gut geeignet, dem Stachel, den
die Lancet-Studien nach wie vor bildet, endlich die Spitze zu brechen.
Letztlich
versuchte man vor allem die wesentlichste Frage zu umgehen: Wie viele
Menschenleben kostete bisher Bushs Krieg? Dazu wurden nicht nur
willkürlich alle Fälle ausgeblendet, die nur indirekt Opfer des Krieges
wurden, sondern auch die Frage, wer sie tötete – sicherlich die
brisanteste Frage. Die Lancet-Studie hingegen ging auch diesem Aspekt
nach und hat u. a. notiert, ob der Ermordete etwa durch eine Autobombe
oder einen Luftangriff getötet wurde. War die Antwort zweifelhaft,
wurde »unsicher/unbekannt« angekreuzt. Bei der Frage nach den Tätern
wurde leider nur zwischen Ausländern und Irakern unterschieden. Trotz
aller Ungenauigkeiten einer solchen Befragung, ließ sich aus den
Antworten immerhin abschätzen, daß ungefähr ein Drittel aller
Gewaltopfer direkt von den Besatzern getötet wurden. Da sie bei den 45
Prozent als »unsicher/unbekannt« eingestuften Fällen ebenfalls als
Täter in Frage kommen, ist der tatsächliche Anteil noch weit höher. Ein
Siebtel aller Toten kam bei Luftangriffen ums Leben. [5]
Auf diese
tödliche Gewalt der Besatzer findet sich in der IFHS-Studie kein
Hinweis. In den, in der Regel sehr wohlwollenden, Berichten über die
neue WHO-Studie konnte daher problemlos der Eindruck vermittelt werden,
die enorme Zahl Ermordeter wäre allein auf religiösen Haß, das Wüten
schiitischer Milizen und die Bomben sunnitischer »Aufständischer«
zurückzuführen, die Iraker seien mithin selbst für den anhaltenden
Massenmord verantwortlich.
Am selben Tag, an dem die WHO die
neue Studie der Öffentlichkeit vorstellte, fanden Berichte über massive
Bombenangriffe der US-Luftwaffe im Süden Bagdads ihren Weg in die
westlichen Medien. B-1-Langstreckenbomber und F-16-Kampfflugzeuge
hatten in zehn Angriffswellen Bomben im Gesamtgewicht von 18000
Kilogramm abgeworfen und dabei 40 Häuser zerstört. Über die Zahl der
Opfer wurde nichts berichtet, die Anwohner befürchten, daß Dutzende
Bewohner unter den Trümmern begraben wurden. Die genaue Zahl ist,
selbst wenn man wollte, nur noch schwer zu ermitteln, da ein großer
Teil der Bewohner, mehr als 300 Familien, das stark zerstörte
Stadtviertel fluchtartig verließ.
Seit 2005 haben die USA ihre
Luftangriffe ständig ausgeweitet. In der Lancet-Studie spiegelt sich
dies in einer stark steigenden Zahl von Opfern solcher Angriffe wider.
Die WHO-Studie verdeckt grundsätzlich die gesamte Eskalation der
Gewalt. Auch wenn die Intention der WHO vielleicht eine andere war,
letztlich dient die von ihr autorisierte Studie somit vor allem einem –
der Verschleierung des gewaltigen Ausmaßes der US-Verbrechen im Irak.
[1] Violence-Related Mortality in Iraq from 2002 to 2006, New England
Journal of Medicine, Januar 2008 (content.nejm.org)
[2] G. Burnham, R. Lafta, S. Doocy, L. Roberts, Mortality after the 2003
invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey, The Lancet,
13.10.2006 (thelancet.com)
[3] Iraqi Casualty Data, Opinion Research
Business, Update January
2008, (opinion.co.uk)
Siehe auch die Hochrechnungen des „Iraqi
Death Estimator“ von Just
Foreign Policy
[4] Andrew Cockburn, Gross
Distortions, Sloppy Methodology and Tendentious Reporting”, CounterPunch,
12.1.2008
[5] Joachim Guilliard, IRAK
- Die verschwiegenen Besatzungsopfer im Irak und Wege aus der Eskalation,
IMI-Analyse 2007/033, 6.10.2007
* Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema
Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher
*
Internationale Irak-Konferenz »Alternativen zu Krieg und Besatzung« vom
7. bis zum 9. März in der Humboldt Universität zu Berlin (irakkonferenz2008.de);
zu den Referenten gehört auch Les Roberts, Koautor der Lancet-Studie